Das Gedächtnis verlieren

25. 7. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

18. Juli. Zug München – Lausanne.

 

Ich fahre im Zug von München nach Lausanne durch die Berge während es in Zeitlupe Nacht wird. Ich lehne meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und atme auf. Die zehn Tage in München waren ein Elektroshock für meinen Hirschkopf. S. und ich sind in sämtliche Abteilungen der Münchner Polizei gegangen, um ein Casting von Polizisten für eine Installation mit deutschen und brasilianischen Polizisten zu machen, die SOKO SAO PAULO heißen wird. Kennengelernt haben wir ungefähr vierzig und ausgewählt haben wir dann sechs:

Ein zweiundachtzigjähriger Polizist, der im Polizeichor Lieder für Beerdigungen singt und bei jeder Beerdigung an seinen eigenen Tod denkt.

Ein Polizeifotograf, der Fotos am Tatort macht -die Leiche eines Selbstmörders mit einem Motorradhelm und einem Revolver, ein unter einem Tisch versteckter und mit Klebeband umwickelter Körper, zwei auf einer Autobahn liegende Hände – aber er macht auch surrealistische Fotos mit halbnackten Polizistinnen.

Eine Polizistin, die sagt, dass das Schlimmste am Polizistendasein in München ist, dass es nichts zu tun gibt, und manchmal die Tage so langsam verstreichen, dass sie sich wie eine auf einem Platz stehende Skulptur vorkommt.

Ein Polizist, der auf Fußballstadien im Einssatz ist, und der uns ein Video mit Prügelschlachten zwischen Hooligans in den Wäldern zeigte: vierzig Männer in weißen T-Shirts gegen vierzig Männer ohne T-Shirt prügeln sich bis aufs Blut.

Ein Polizist, der Schießausbilder in Sao Paulo war und sich in eine Brasilianerin verliebte, die ihm das Herz brach.

Eine Rockband aus lauter auf den Drogenhandel spezialisierten Polizisten, die Augustina Green heißt und ein Lied mit dem Titel ¨Like a shadow in the night¨ spielt, das davon erzählt, wie das Leben der Polizisten bei Nacht ist.

Der Prozess der Interviews und Besuche war seltsam. Ich bewegte mich in dieser geschlossenen Männerwelt von Polizisten, die Deutsch sprachen und uns ihre Fotos und ihre Übungen zeigten wie einer etwas verwirrten Touristin. Ich stellte Fragen auf Englisch und hielt alles in meinem kleinen Notizbuch fest, aber gelegentlich scheiterte das ganze System der Simultanübersetzungen, und ich blieb verärgert zurück mit dem Gefühl, dass mir alles entglitt, dass ich die Welt der Recherchen besser verlassen und nach Hause schreiben gehen sollte. Manchmal ist die Dokumentararbeit wunderbar, weil ich durch sie wie ein Spion in andere Welten eindringen und mir heimlich Erfahrungen der Anderen aneignen kann. Dann wieder habe ich das Gefühl, dass ich bei der Arbeitsweise von S. ganz verschwinde, dass ich meine Art zu sehen, zu schreiben dabei verliere.

Und mitten in diesem Polizistentrubel bekam mein Computer beim Transport einen Stoß und die Festplatte gab den Geist auf. ¨Ich habe das Gedächtnis verloren¨, dachte ich, als mir der Techniker sagte, dass nichts mehr zu retten sei und mir die Leiche der Festplatte eingepackt in einen Minisarg aus Metall überreichte. Alles, was ich zuletzt geschrieben hatte und alle meine Fotos waren weg. Ich verließ das Reparaturgeschäft wie eine Schlafwandlerin und ging in mein Hotelbett sterben.