Die Mur fließt die Mur hinab

23. 9. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

lendplatz

Melancholie in Graz findet keinen Platz. Sogar der Lendplatz hat sich gründlich verschlossen. Ich denk an den Lendplatz vor einigen Jahren zurück, als ich hier das erste Mal landete, nachts nach einer langen Oulipo-Lesung bei den Minoriten, und nachdem ich die Autoren ihre Rollköfferchen ins Hotel Feichtringer verschleppen betrachtete, blieb mir nichts als eine kühle Herbstnacht wie diese und keine Ahnung, wo die Jugendherberge sein mochte. Und da griffen mich ein paar nette Jungs auf, die bei einem Stand jobbten, der eben zumachte nach einem Fest, und wir hatten Bier und ich redete nicht viel, der alte Säufer Erich rettete einen Igel und schließlich hatte einer ein Bett frei, wirklich, ein ganzes leerstehendes Zimmer in seiner WG. Es waren sehr nette Jungs, die BWL studierten oder Sport oder Technologie, was man als junger sportlicher integrer Steirer eben studiert, und jetzt frage ich mich, was die wohl machen, ziehen mit ihren Freundinnen zusammen oder mit dem ersten größeren Job nach China, die Jovialität hat sich verfestigt, der Bauchansatz bestätigt, die Freundin ist schwanger, nächstes Jahr will er den Marathon mitlaufen.

melancholie

Melancholie in Graz findet keinen Platz. Ich schlich den inoffiziellen Fußweg den Fluss entlang, fand eine Stelle zum Lesen, einen kleinen Pseudostrand, las, las mit heftiger Begeisterung Anne Carson, Autobiography of Red, das mir Manuela am Vorabend geborgt oder geschenkt hatte. Aufblickend mehrmals die Überbelichtung des gegenüberliegenden Ufers, gerade so lange, um den letzten Abschnitt ruhen zu lassen, dann sofort weiter. Ich habe einen Ausschlag an den Unterarmen, ganz neu und leicht, bloß angeschwollene Poren, die jucken, ob vom Waschmittel der Bettwäsche, von der Kunst, von der Grazer Luft – die mir hochbehagt – , vom Schilcher Sturm, oder bloß vom Verlangen nach Berlin und dem Engelrücken dort. Jeden Tag lasse ich das Fenster sperrangelweit offen, meine Dinge übers Bett verstreut, und wenn ich abends zurückkomme, ist alles zivilisiert und ich finds nicht. Von draußen kommt die Schwärze, Handygespräche und Musikfetzen, Eels. Das Kinderstück war doch recht oberflächlich und lieb, ich vermisste die Abgründe, erinnerte mich daran, wie meine kleine Schwester mit dreizehn die Fürstin Orsina in Emilia Galotti spielte. Beim Tanz der Normalen war ich zu langsam, um noch reinzukommen. Ich war zwar wie eine Zahnradbahn auf Speed die Sporgasse hinaufgelaufen, doch angesichts der Menschentraube in The Theatre wollte ich die Ungelassenheit, mit der ich die lieben Festivalleute vor dem Kinderstück um ein Papierticket schickaniert hatte, nicht wiederholen, sondern bestellte mir ein Bier. Und wiewohl ich das Bier rasant aussoff, war es nicht schnell genug, die Saloontüren aus gelbgetränktem Baustellenstoff gingen vor mir zu und nicht wieder auf. “Gelb. Du kennst mich gar nicht. Gelb. Gelb.” – so Carson. Immerhin konnte ich den versehentlich aus guten Intentionen mitgenommenen Kugelschreiber an den sanftmauligen Berliner zurückgeben. Mich hält hier gar nichts mehr, Berno und Manuela, die zwei schönen Menschen, sind weg. Ich kann mich nur mehr als unbekannes Gegenteil und melancholischer Schatten vom hellauf dauerbegeisterten Mårten Spångberg in diesem Festival ex negativo bewegen. Vielleicht kein notwendiger Gegenpol, aber ein Luxus, das immerhin. Wenn sie sich mich schon leisten als griesgrämige Kommentatorin, dann putz ich mir mal die Vogelscheiße von der Jacke und mache weiter.

schmacht