29.11.1984

12. 10. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Graz und Triest waren die ersten Städte außerhalb Jugoslawiens, deren Namen ich kennen lernte. Ich wusste, wo sie sich befinden. Wie weit sie von Zagreb entfernt sind. Was mich Sportschuhe in der einen bzw.  Kaffee in der anderen kostete. Und ähnliches.

In den späten Siebzigern und der ersten Hälfte der Achtziger dauerte der Konsumrausch noch an. An den Wochenenden fuhr man in die Grenzstädte, organisiert, mit einem Bus, der genau vor einem Supermarkt hielt. So waren die ersten Dinge, die ich in Graz sah, der Metro-Parkplatz und die unendlichen Regale in der Lebensmittelabteilung dieses Supermarktes, der verglichen mit den düsteren Zagreber Geschäften (wo Milch als Milch, Käse als Käse und Würstchen als Würstchen verkauft wurden) wie ein Spielzeuggeschäft aussah. Meine Mutter hatte immer einen Taschenrechner dabei, sie rechnte die Preise um und wiederholte – Ivana, lass das – oder – Nein, Ivana, das ist zu teuer – oder – Nein, Ivana, das brauchst du nicht.

Nach Triest jedoch fuhren wir selten, da diese Fahrten viel teurer waren. Wegen der Einkaufsvorhaben fuhr man in alter Kleidung und ausgetretenen Schlappen, die man in der ersten öffentlichen Toilette in den Müll warf, wo man in das soeben erstandene Kleid schlüpfte, den Saum stopfte man in die neue Jeans, darüber zwei bis drei nagelneue T-Shirts und darüber noch ein neues Hemd – und über all das kam die neue Strickjacke, die man nicht einmal im Traum in einer Zagreber Boutique hätte finden können. Vor der Abfahrt blieb noch etwas Zeit, um in der Stadt spazieren zu gehen und zumindest ein wenig die Sohlen der neuen Schuhe abzuscheuern. Am Zoll meldete man einen Addidas-Jogginganzug und ein paar Nylonstümpfe an.

Der Einkauf in Graz brachte einem kleine Statussymbole ein. Später teilte man die Kinder in den Schulklassen in die ein, die a) die Bravo haben, b) dir erlauben, die Bravo durchzublättern, wenn sie die Poster herausgelöst haben, c) behapten, dass Milka die beste Schokolade sei, d) ihre Stifte in einer leeren Fanta-Dose aufbewahren, e) mervertštojer nicht aussprechen können, f) nie von einem Überraschungsei gehört haben, und g) am liebsten Nesquick trinken.

Vor der Adventszeit, das heißt am 29. November, an jenem Feiertag, der als Tag der Republik begangen wurde, fuhr meine Mutter allein nach Graz, um Schokoladenkuvertüre und Verzierungen für Weihnachtsplätzchen zu kaufen. Wir bettelten sie an, sie möge uns zwei Fanta-Dosen mitbringen, damit wir unsere Stifte darin aufbewahren könnten. Sie tat so, als hätte sie uns nicht gehört. Sie kehrte düster und schlecht gelaunt zurück, mit Einkaufstüten, in denen beinahe nichts der Bestätigung unseres Status diente. Sie lagerte zehn Tonnen Kaffee auf dem Balkon und genauso viel Ariel, die Schokolade und die Marzipanverzierungen versteckte sie in den obersten Küchenregalen, und wir bekamen unsere leeren Dosen von irgendwelchen Freunden.

Später erzählte sie mir, dass dieses „Shopping jenseits der Grenze“ (so wurde es genannt) ihr immer das Gefühl gab, ein weniger wertvoller Mensch zu sein. Wahrscheinlich wegen all dieser Arieltonnen. Ich gab zu, dass es auch aus uns weniger wertvolle Kinder machte. Wahrscheinlich wegen der Fanta.

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer