Mehr Raum, anders

17. 9. 2009 // // Kategorie Randnotizen 2009

Sprach-Räume, Orte, Plätze, Stellen oder Winkel der Wahrnehmung (und in der Wahrnehmung) Vergewisserung – Verunsicherung – vielleicht Niederlage (einerseits, weil : Wahrnehmung nicht vollständig eingeordnet, gestapelt und die richtige Richtung gebracht werden kann, also vage bleibt, auch wenn sie dennoch massiv sein kann, jaja). Räume aus Sprache oder Wahrnehmung wollte ich ausleuchten, ausmessen mein eigenes (sprachliches) (perzeptuelles) Gehen, Vortasten, Voranschreiten.

Und dann habe ich : Räume ausgeschritten, so und so viele Meter lang und breit und hoch, über weiteren Raum, der zu schaffen ist, gestaunt. Gleich angefangen, sich mit diesen Räumen mich auseinandergesetzt, auf eine sehr physische Weise. (Die eine und weitere körperliche Grenzen meinerseits haben sich dabei natürlich auch aufgetan.) Aber zuerst. Langmut, wer hätte das gedacht. Ich habe geschätzte 200 Quadratmeter Wand verspachtelt (unser Bildhauer-Freund ein Vielfaches, aber das ist ja kein Bewerb, sondern die Ästhetisierung von Wohnraum mit vorhandenen Mitteln), Quadratzentimeter für Quadratzentimeter, Innenspachtel fein, Gips, Spachtelmasse, Fugenfein, je nachdem, was gerade verfügbar ist. Das geht so dahin, morgens schlüpfe ich in alte Sportsocken und eine Hose aus dem Jahre Schnee (das war noch in einer anderen Stadt – Jobperspektiven nach dem Studienende, Frühstücken im Schwarzsauer vor den anderen, längst schon war das besetzte Haus in den Eigentum der ehemaligen Besetzer übergegangen und die in ein Stadium der Bobohaftigkeit, als das Wort noch gar nicht erfunden war – vor und nach der Renovierung anderer Wohnungen, es waren doch über all die Jahre so viele) und ein Leiberl mit Farbflecken, was weiß ich woher, spachteln, spachteln, Radio Ö1, FM 4, Stille, Spachtelmasse neu anmischen, die drei Meter hohe Leiter hinauf, hinunter und schon ist eine Woche vergangen, vielleicht auch zwei.

Innerfamiliär dräuen die Kategorien »alt« und »neu« herauf, der Begriff »Zuhause« funktioniert noch, manchmal muss man aber schon dazusagen, in welches man jetzt fährt. Die ersten Unterschiede drängen sich in die Wahrnehmung, vielleicht habe ich auch nur darauf gewartet; es wird schwierig, sie politisch korrekt wiederzugeben, ich sage es so : die Internationalität der alten und neuen Umgebung ist eine sehr unterschiedliche, aber wenigstens ist sie (hier wie da) vorhanden. Südlich und bunt und »am meisten« – das hat uns gefallen, das haben wir verteidigt denen gegenüber, die zur Adressangabe wissend-abgeklärt erwiderten : ach, da hab ich auch einmal gewohnt … früher … Und früher heißt in dem Fall natürlich : als ich jünger war, keine Familie (Kinder, um die man sich naturgemäß in einer solchen Gegend sorgen muss) und weniger Geld hatte. Heißt logischerweise : sobald ich weg konnte, hat mich da nichts mehr gehalten. Eine Berliner Freundin ermunterte mich, dass ich die türkisch-stämmigen Nachbarsbuben, die selten die Schule besuchen und ähnlich wie ihre Väter kapo-artig unser Hauseck oder was auch immer bewachen, die Straße, die auf eine bestimmte Art (die sie kennen, die ich kenne, über die wir uns offensichtlich stumm geeinigt haben vor längerer Zeit) ihnen zu gehören scheint, abchecken, dass ich auf diese Burschen schon einen Einfluss ausüben würde können, es sei sogar meine Aufgabe, für sie eine positive Figur darzustellen usw. (Dieser Aufgabe konnte ich nicht nachkommen, wollte ich vielleicht auch nicht – wie es gehen hätte sollen, weiß ich auch heute eher nur ungefähr, aber wahrscheinlich ist dieses ungefähre Wissen Produkt meiner Bequemlichkeit.) Im letzten Jahr, kurz vor Weihnachten nahmen wir die Einladung eines Nachbarn an und fanden uns wieder in einem 1-A-Hobbykeller mit witzigem Wurzelwerk über der Vollholzbar, neben einem improvisierten Punschstand und vielen nackten Mädchen – an den Wänden. Eine junge Frau sagte auf meinen Konversationsversuch (den mein dreijähriger Sohn vorbereitet hatte, indem er ihr gefährlich nah kam, aus dem Chipsteller vor ihr auf dem Tisch aß, woraufhin sie angewidert zurückwich und versuchte, sich unauffällig-auffällig aus dieser Gefahrenzone zu bringen), dass es »bei ihr ja nun auch bald so weit sei« : ja! Es geht mir scho so am Oarsch. Woraufhin gleich ihre Freundinnen ihre Verwunderung teilten, dass sich niemand von ihnen vorstellen könne, dass sie als Mutter etc. Und der Gastgeber, ein freundlicher, immer gut gelaunter, aber zum Zeitpunkt unseres Eintreffens schon ziemlich betrunkener – ja was eigentlich? Schlosser? Mechaniker? Angestellter in der Baubranche? (ich weiß es nicht und schäme mich jetzt dafür. Sie arbeiten – viele von ihnen jedenfalls – von 7 bis 7. Die Spanne, die sie dafür bekommen, ist ziemlich groß, der Unterschied dabei hat eher mit Herkunft denn mit Ausbildung zu tun, natürlich nicht in allen Bereichen. Manche von ihnen essen zu Mittag gar nichts, andere verdrücken Thunfisch aus der Dose und nachmittags Kaffee aus dem Kühlfach. Es gibt Feierabend-Aushilfskräfte, die sich Bier wünschen, weil sich das so gehört auf der Baustelle, und die gerne bei einer Zigarette von den Kindern erzählen, die sie eigentlich viel zu wenig sehen.) – Ernstl, der Gastgeber jedenfalls, beteuerte in der Stunde, in der wir auf dem Fest waren, rund zwei Dutzend Mal, dass er es gar nicht glauben könne, dass er sich irre freue, dass er aber niemals mit uns gerechnet hätte, dass wir (die Aliens aus dem ersten Stock, deren beleuchtete Bücherwände die Szenerie aus schneller Prostitution zwischen zwei Autos, kleineren und größeren Deals und dem normalen, geschäftig-lautem Leben auf der Straße, das die Mieter aus dem Gemeindebau gegenüber mitunter durch Keifen aus dem Fenster kommentieren oder auf diese Weise abstellen wollen, überblicken), dass wir tatsächlich gekommen waren.

Leitungen stemmen, um Licht und Wärme und den Geräten für kabellose Verbindungen die Wege zu weisen. Mobiliar aus den letzten 30 oder 40 Jahren entsorgen. Ausgleichsmasse, Naturstein und Platten zweiter Wahl. Ausflüge an die Peripherie und immer wieder an die wahren Schauplätze der Realitätsausstatter (Baumärkte!) (Es gibt immer was zu tun…).

Irgendwann, es sind schon ein paar Wochen vergangen, fange ich an, die extraterrestrischen Überreste des Untergrundes zu beseitigen. Rote Krähe und Stechbeitel sind da die Hilfsmittel, es vergeht eine weitere Woche, mittlerweile kenne ich weitere Muskel an Oberarmen und -schenkeln, deren Existenz mir bislang verborgen geblieben ist. Der Bankbeamte, der für die Kreditvergabe zuständig sein könnte, ist ein Topberater (so steht es auf seiner Visitenkarte), er trägt die Hemdsärmel wie auf den Plakaten, die für den Aufschwung seiner Bank werben sollen; war auf einer Lesung von mir und versteht die schwierige Lage von uns Künstlerinnen, muss aber darauf verweisen, dass für die Bank nur Ziffern in Schwarz auf Weiß zählen. Ein bisschen rechnet er damit, dass diese neue Erfahrung in einen meiner nächsten Texte Eingang finden könnte (werde ihm den Link zu den Randnotizen schicken) und wünscht mir jedenfalls für mein weiteres Schaffen das Allerbeste usw. Und auch Freunde reagieren auf Produktnamen so, als müssten sie meinen nächsten Buchtitel bewerten. »Löser« findet dabei am meisten Zuspruch.

In ruhigeren Momenten pflegen wir unsere Grätzl-Rituale, die schon das Adjektiv Abschied tragen. Wir gehen zu unserem Wirt Edi, noch einmal, noch einmal, wir gehen auf den alten Spielplatz, die alten Wege, ich fahre die Brache entlang und bedauere, Genugtuung mischt sich unter die minimal traurigen Regungen, weil ich mich darauf freue, das Fahrrad bald nicht mehr durch den engen Eingang und die schmale Treppe hinauf/hinunter in den Hof schleppen zu müssen und auf einmal bemerke ich, dass die kleine alte Frau von gegenüber, deren Mann im letzten Winter gestorben ist, uns vielleicht vermissen wird, wenn sie sich zum Rauchen aus dem Fenster beugt und ein bisschen an unserem Familienleben teilnimmt.

Zwischendurch erhalte ich Nachrichten von der Protagonistin meines übernächsten Romans. Sie schlägt eine Erbschaft in Form eines alten verfallenen Mietshauses aus und erwirbt ein Gartengrundstück. Endlich kann sie ihr Studium abschließen, wird Maklerin für Fertigteilhäuser – eine Profession, die sich im kontextuellen, im literarischen Umfeld viel zu klischeehaft ausmachen würde, als dass ich sie verwenden könnte. Und sie hofft, dass ihr Lebensgefährte und Vater ihres Kindes bald in Vietnam seine ersten Gebäude planen darf.

Während ich diese Zeilen schreibe – in meinem alten »Büro«, dem Kaffeehaus J. im 6. Bezirk, meldet sich der Tischler für den kommenden Tag um 7 Uhr morgens an, er wird mit seinem Kollegen dem von mir abgekratzten Boden den letzten Schliff geben, und der Installateur ruft auch an – es könnte sein, dass wir beim Einzug doch (Warm-)Wasser haben werden. Alles wird gut. So gesehen.

[ Über das Ausmessen meiner Schritte – Tapetenreste, Tapetenwechsel ]