Fremd, alles bekannt

12. 10. 2009 // // Kategorie Randnotizen 2009

Moon, zehn Jahre ungefähr alt, Tochter von Schrifstellern, in einem gemusterten Hippiekleid nimmt zirka 30 weiße Blätter aus dem Drucker ihrer Eltern, faltet sie in der Mitte und klebt sie zusammen. Wenn sie ein Buch schreibt, dann stellt sie dieses Buch zuerst her, sie könnte ja auch ein Heft nehmen, in das sie ihre Geschichten hinschreibt und -zeichnet. (Nein, kann sie nicht. Das Physische des Untergrunds ist ebenso wichtig wie ihr Baumhaus, ihr Hund und die beiden Katzen. Und das Indianerkostüm, das sie anzieht, wenn sie sich lieber wie eine Indianerin fühlt. Ich habe noch mit 16, 17 meine eigenen Bücher gebunden, bin damit bis nach meinem Studienbeginn ausgekommen, dicke A4-Bücher mit bunten Blättern zwischendrinnen, die sich manchmal herausgelöst haben.) Einer der beiden Tischler, die im vergangenen Sommer den Boden der Wohnung abschleiften, kam mir sofort bekannt vor, als ich ihn darauf anspreche und er mir antwortet, erkenne ich ihn sofort an der Stimme. Klausi. Der große Bruder von C., der ersten Freundin aus Kindertagen, die mich vor ein paar Jahren bei einem zufälligen Wiedersehen in Graz vollkommen reminiszenzfrei stehenließ, nachdem sie mir Streberei und Ehrgeiz attestierte. Jetzt sagte Klaus auf mein Nachfragen, wie es ihr ginge, dass sie drei Kinder habe, »aber allein mit ihnen« sei, er wusste das Alter der Kinder nur eher ungefähr, wo sie arbeitete, das wusste er und dass er nicht so viel mit ihr zu tun habe, hätte er nicht extra hinzufügen müssen. Mit 12 und 13 hörten wir dieselbe Musik, lasen dieselben Bücher, wir hatten es wirklich schwer mit unseren Eltern, hielten spiritistische Sitzungen ab mit dem ganzen Drumherum. Wir hatten Pläne. C. war die erste Vertraute, was Ideen für die Zukunft betraf; sie war – da sie ähnlich anders war als ich – ein Garant für eine Zukunft. Wir verständigten uns über die Ungerechtigkeiten (in der Familie : so fängt es an/ist in der Welt). Ihre Mutter arbeitete für meine Eltern : vielleicht habe ich diese Zwangsgemeinschaft (Sand- oder Schule spielen, in Gummistiefeln hinter den Müttern hertroten, lauter Dinge, an die ich mich gar nicht mehr erinnern kann oder mag) als Beginn von etwas Gemeinsamen missverstanden.
Immer wieder muss ich von Familien erzählen, die sich doch nur dadurch definieren, dass alle ausgeschlossen sind. Das Ausgeschlossen-Sein setzt sich ja fort in dieser Gesellschaft, die fast nur mehr von den Rändern her belebt, betrachtet, bespielt wird.
Der Film über Moon entstand nach einer Idee des Mädchens selber. Sie erzählt von ihrem aktuellen Buch, in dem ein Mädchen zu einem Wolf wird, das seine beste Freundin verschlingt. Es kann nicht anders. Sich in einen Wolf verwandeln, um aus der Gesellschaft zu verschwinden, weg von den Menschen, die die Tiere quälen und einsperren. Erzählen kann das Mädchen davon und ist gerettet. Wie sehr sie (und die Regisseurin) sich an die Möglichkeitsgrenzen des Sagbaren begibt, entpuppt sich in der Frage/Antwort : wärst du auch gerne ein Wolf und was ist, wenn du dich nicht mehr zurückverwandeln kannst. – Wie kannst du das fragen!? Die Kinder, die vor mir sitzen, vergewissern sich, dass sie keine Angst vor Werwölfen haben müssen, sie wissen, dass nur kranke Wölfe Menschen angreifen (ist das so? Denke an den Fuchs, der im Sommer über den sehr frequentierten Spielplatz spazierte, da hatten einige Eltern ebendiese Assoziation, aber ob das auch stimmt?), sie verwünschen sich auch manchmal, aber daran lassen sie die Moderatorin jetzt nicht teilhaben, was ich gut finde. (Sie sind zurückhaltend und wie immer melden sich natürlich immer dieselben. Aber während der drei Filme sind sie aufmerksam und es ist von außen nicht sichtbar, was sie wirklich sehen. Mehr als sie darüber sagen wollen, das bestimmt.)
Gehe durch bekannte Gassen, natürlich fremd wie früher. Ein Bruder läuft mir über den Weg, er sagt über die Wahrnehmung der Menschen in diesem Herbst : »alle wissen, wieviel Kilo wer hat, aber was die Vorhänge vor dem Rathaus bedeuten, das wissen sie nicht.« (Er auch nicht.) Ich : hier muss ich immer fremd sein, das hat sich schon zu einem Programm entwickelt, das bereits vor dem Eintreffen einsetzt. In den ersten Jahren kam ich von draußen angereist, frühmorgens und immer müde. Angekommen bin ich nicht, und ein paar Inschriften auf diesem Weg, der von Nirgendwo nach Irgendwo geführt hat (und mein Schulweg war, natürlich), sind das einzige Brauchbare, sind im Gepäck geblieben. Eine Zwischenzeit, die nicht abgeschlossen scheint, sobald ich wieder hier bin. Verlerne die selbstverständlichen Dinge unmittelbar, aber die anderen sprechen mit mir, als würde ihnen nichts auffallen. Also.
Jetzt ist der Boden abgeschliffen, stehen Kisten zum Auspacken bereit und ich bin wieder weg; ich wohne ein paar Tage im Hotel, wo die Fremdheit höchst kultiviert Raum greift. Bei geöffnetem Fenster rauscht der Verkehr und das strömende Wasser. Bin ganz oben untergebracht und zu der Stelle, an der meine C. im nächsten oder übernächsten Kapitel verschwindet, sind es nur wenige Kilometer flußaufwärts. So also ankommen : von mir absehen und die sog. Randständigen und deren Verwegenheit, die Außergewöhnlichkeit scheinbar ach so banaler/gewöhnlicher Biografien in den Mittelpunkt rücken und rücken. Alles, was das bloße Leben ausmacht, will gesichtet werden. Und was darüber hinausgeht und aus dem nackten ein vollständiges Leben machen könnte, befragt.

[ Zum Ausmessen meiner Schritte – Grund oder Gewicht II ]