Wintereinbruch, Nacht. Echt.

19. 10. 2009 // // Kategorie Randnotizen 2009

Eine erstickte Perspektive ist Plüsch für das Auge. (Amos Vogel, Film als subversive Kunst)

Wie diese Welt beschaffen ist : der Wintereinbruch findet innen statt. Eine Kamera folgt einer Frau auf der Straße. Die Frau betritt die Straße wie eine Bühne, vielleicht ist sie auch eine Abwesende auf dieser Straße, sichtbar vorhanden ist diese Abwesenheit in der Anwesenheit auf der Straße zwischen Menschen. Der Körper wird auf seine Funktionen (nicht unbedingt die eigentlichen) reduziert oder vielleicht umgebaut, ist wie alles in Auflösung begriffen : aber präzis, Teil für Teil verschwindet, was einen Halt geben könnte, eine Richtung oder eben eine Auskunft. Die Kamera will nicht unterscheiden zwischen Innen und Außen, sich und uns den Anschein geben, dass sie mehr sehen känne als die Oberfläche. Als könnte sie Gedanken lesen, z. B. die Erinnerung von K. an eine alte Frau, die diesen Weg täglich gegangen ist. (Und dann wird eine Geschichte erzählt, ausgesagt, aber das wirkt mehr wie ein Versprechen oder ein Versagen. Lässt einen ähnlich ratlos zurück.)

Ich bin mit Radka Denemarková unterwegs, einer tschechischen Schriftstellerkollegin. Das bricht den Aufenthalt einmal mehr, weil ich – neben meiner Suite im Grand Hotel und den Treffen mit Familienmitgliedern und Bekannten im Stadtpark und einem sagenhaft günstigen Wirtshaus mit dem treffenden Namen Alt Wien, im öffentlichen Raum – auch ein bisschen mit ihren Augen auf die Stadt sehe, auf die sog. Literaturszene, die sich in diesen Tagen von seiner eifrigsten Seite zeigt (was meistens nicht mit Massenandrang zu tun hat, es bleibt überschaubar), die Möglichkeiten erwägend, das Klima beschnuppernd und immer wieder freundlich staunend.

Der Kamerablick ist ein sezierender, ein die Objekte in kleinere Teile auseinandernehmende (natürlich ist auch das Gegenteil der Fall…). Die Teile zusammenbringen : Körperteile sind Teile eines Ganzen und auch Einzelnes (Kamerablick), anhand der aufgenommenen Ausschnitte kann der Zuseher (Leser) ergänzen oder weglassen, erweitern oder eigene Ausschnitte herstellen. Das gilt für den Text gleichermaßen wie für die Figuren, von denen er erzählt. Und ja. Ich verlange vom Leser/von der Leserin : Aufmerksamkeit und Konzentration, Abstraktion und Vergegenständlichung, die aktive Auswahl und Weiterarbeit beim Hören/Lesen. Das Einnehmen der Position hinter der Kamera beim Rezipieren eines Textes. Und es ist schon so : der dokumentarisch-filmartige Blick auf die Frauen, deren Wege sich zufällig und absichtlich kreuzen, will diesen Text erzeugen, will nicht selbstverständlich sein, auch nicht aussagend-erzählend im herkömmlichen Sinn, keine unterhaltende, absehbare Story, angereichert mit Wiki-Fakten oder erweitertetem Fernsehwissen.

Unser Schauen soll aber durchleuchtet werden und hinterfragt.Überblendungen von Erzählen und Erzähltem, Unterbrechungen, die das Erzählen nicht einfach dokumentarisch erscheinen (wie es ein Effekt von Montagetechniken sein kann), sondern zu einer eigenständigen Dokumentation werden lassen. Manchmal verhält sich ein Text wie die eigene Off-Stimme zum Geschehen, die aber vom Körper immer wieder eingeholt wird.

»Ich halte die Straße keineswegs für ein ganz geeignetes Mit¬tel, seine Meinung bekannt zu geben/außerordentlich demokratisch ist, wenn es Leute gibt, die trotz der Verbote, die einzige Öffentlichkeit, die dann für sie bleibt, nämlich die Straße benutzen, und davon öffentlich Gebrauch machen.«

Ich gehe an aktuellen Schauplätzen vorbei, denke an meine Hauptfigur C. und vergleiche die Erinnerung mit den Fakten, suche Hauseingänge, ganz leicht geht das, fast, als würde sie mir aufgetragen haben, nachzuschauen, ihr davon zu berichten. Von den Veränderungen, von dem, was gleich geblieben ist. Es ist aber nie eine Vergewisserung des Erzälten und/oder Erzählbaren. Das nämlich steht außer Zweifel und außer Streit. Kann es mit der Wirklichkeit nicht aufnehmen. In der Doku-Filmreihe für Kinder und Jugendliche habe ich mich zweimal über den Moderator geärgert, der immer wieder darauf beharrte, dass Dokumentationen vom Echten erzählten, echt sagte er immer wieder, genüsslich, triefend. Echt. Hassenswerte Vokabel oder auch lachhaft. Die Straße ist ein Ort, an dem wir die vielfältigsten, die flüchtigsten Begegnungen haben, die über einen (unbewussten, nicht wahrgenommenen) Blick meist nicht hinausreichen. Gleichzeitig – und daran soll mit dem Zitat von Ulrike Meinhof eben nur peripher, auf der Zitatebene erinnert werden – ist die Straße öffentlicher Ort, Ort von Protesten und Demonstrationen, demokratisch eigentlich (vor den Einschränkungen, den Wegweisungen). Die Straße ist für viele Bevölkerungsgruppen Treffpunkt, Aufenthaltsort. Für Obdachlose u. Menschen, die in unserer Gesellschaft nicht (mehr) ihren Platz finden, ist die Straße oft der einzige aller möglichen Orte. Diese Figuren des öffentlichen Lebens bestehen aus Wahrnehmungen, denen sie nicht trauen können, und aus den Zuschreibungen anderer. Die Wirklichkeit läuft ab/findet statt als Zeitraffer – nur die Menschen kommen dem nie nach.

Eine Kamera folgt einer Frau, die sieht, denkt, sich erinnert. Ist auf der Straße unterwegs, geht an Menschen vorbei (übersieht), trifft auf eine flüchtige Bekannte, geht ihres Weges; parallel wird von einer Frau und deren Tochter (fast nichts) erzählt, treffen wir auf eine Frau, die sich auf der Straße das zurückholt, was man ihr dort genommen hat. Am Ende begegnen sich K., Klara und die Kamera auf einem Dach, sehen sich und haben sozusagen den totalen Überblick.
Wie diese Welten beschaffen sind : der Beginn der Nacht wird vom Einbruch der Müdigkeit bestimmt, nicht umgekehrt!
Was noch zu tun ist : wie weit kannst du erzählen, der Geschichte, dem Erzählen freien Lauf lassen, ohne zu Ende zu erzählen, ohne auszureden im Sinne von Schluß. Wie weit sich nach vorne wagen, es ist ein Grat. Ich packe meine Sachen, alles passt in einen kleinen roten Koffer, wie immer. Ich werde in wenigen Stunden meinen Sohn aus dem Kindergarten holen, er fragt mich, wie es war, in Kroatien. Und als ich sage : Graz. Ich war in Graz, da bin ich wieder ganz und gar unsicher, wie sehr das Graz war, mein Aufenthalt in diesen Tagen. Kalt ist es geworden, aber in der neuen Wohnung funktioniert die Heizung, wie bedienen sie manuel. Ich schreibe wieder an meinem Text.

[ Zum Ausmessen meiner Schritte – Erzählen also, erzählen ]