Verwegener Abendspaziergang

26. 6. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Ich mache einen abendlichen Spaziergang durch mein Viertel. Die Tage sind lang, obwohl es schon relativ spät ist, herrscht dieses weiche Dämmerlicht. Auch die Luft ist weich. Die Gassen sind ruhig, sie sind menschenleer. Hin und wieder ein Auto, die fahren hier langsam, weil sie Parkplatz suchen und weil die Gassen eng sind. Die Gehsteige sind an den meisten Stellen breit genug, um Stühle aufzustellen, auch kleine Tischchen hätten Platz, darauf könnte man eine Flasche Wein und ein paar Gläser stellen, vielleicht ein Schälchen mit Oliven. Im Gehen blicke ich an den Häusern hinauf. Nur selten steht ein Fenster offen, einmal sehe ich im ersten Stock einen Mann am Fenster, eine Hand am Ohr, er spricht.

Wahrscheinlich gibt es in vielen Häusern Fensterbänke, breit genug, um darauf zu sitzen. Bestimmt aber, das sehe ich, haben alle Wohnungen Fenster, die nicht vergittert und nicht zugenagelt sind. In den paar Gassen, durch die mich mein Abendspaziergang führt, gibt es geschätzte eintausend Fenster, von denen ich fünf geöffnet sehe. Fünf von tausend Fenstern, an denen man stehen, aus denen man sich beugen könnte, um zu sehen, was in der Gasse unten vor sich geht, Fenster, durch die man Geräusche und Gerüche in die Wohnung lassen könnte, durch die man den Sommerabend in sich aufnehmen könnte. An den fünf geöffneten Fenstern steht niemand, keiner beugt sich hinaus, nicht einmal ein bisschen, schon gar nicht zu weit.

Ich fühle mich seltsam gänzlich außerhalb. Ich fühle mich auf meinem Abendspaziergang eigenständig und wachsam und ein bisschen verwegen, ungefähr so habe ich mich auf meiner ersten Interrailreise gefühlt. Ich bin gekleidet in Hose und Pullover, Sommerschuhe an den Füßen. In meiner hinteren Hosentasche spüre ich meinen Schlüsselbund. Mein Viertel ist eine Wohngegend, die Menschen kommen am Nachmittag oder abends nachhause, sie haben Kinder, es gibt viele Pensionisten, die allein wohnen, betreut oder nicht. Immer wieder hängen Zettel aus mit unscharfen Fotos von Katzen, die entlaufen sind und verzweifelt gesucht werden, oft ist man bereit, Finderlohn für die Tiere zu bezahlen.

Durch den transparenten Vorhang einer ebenerdigen Wohnung, vor einem der fünf offenen Fenster, sehe ich einen alten Menschen im Schlafrock und in einem Rollstuhl sitzen. Als ich schon vorbei bin, drehe ich den Kopf noch einmal und sehe in der anderen Zimmerhälfte den Fernseher. Sieht nach Nachrichten aus. Auf der Terrasse eines Gasthauses sitzen Menschen an Tischen zusammen und reden leise. Die Geschäfte sind geschlossen. Vor einem Schaufenster steht eine Frau, als ich vorübergehe, schaue ich ihr über die Schulter. In der Vitrine des Installateurs Kowalski sind an der Wand verschiedene Lichtschaltermodelle angebracht, davor prangt ein Plastikblumenarrangement auf orangenem Grund. Ich sehe in drei Gassen drei Menschen, jeweils einzeln, die sind in Gespräche mit ihrem Handy vertieft und betrachten ihren Hund, der mit gegrätschten Hinterbeinen kotet.

Ich mache meinen Spaziergang an einem dieser seltenen Abende im Frühsommer, die so beglückend lang dauern und von Helligkeit und weicher Luft erfüllt sind. Ich gehe durch die Gassen meines Viertels, die mir vertraut sind, ich sehe sie alle Tage. Meinen Tag habe ich wie die meisten meiner Tage verbracht, und der morgige Tag erwartet mich wie der heutige. Ich wandere eine halbe Stunde durch die wohlbekannten Gassen und fühle mich außerhalb und eigenständig und verwegen wie damals auf Interrail. Ich bin in Hose und Pullover, Sommerschuhe an den Füßen. In der hinteren Hosentasche spüre ich meinen Schlüsselbund und ich fühle mich außerhalb und eigenständig und verwegen. Ich bin ohne Handy und ohne Geld aus dem Haus gegangen.