Googelt Amendt!

15. 7. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Das habe ich bestimmt nicht exklusiv, das passiert bestimmt allen, deren Phantasie noch nicht völlig in den Ketten der Disziplin liegt: Man nimmt sich vor, zu Beginn eines Tages am Schreibtisch, sich von Nichts ablenken zu lassen, nicht abzuschweifen, also sich zu benehmen, wie es die Fußballtrainer und Mannschaftskapitäne in diesen Tagen der Weltmeisterschaft als ihre größte Tugend preisen. Sie sind dann (ein schrecklicher Gedanke, der wahrscheinlich nicht einmal gelogen ist) “voll fokussiert” auf den nächsten Kampf.
Und dann klappt das einfach nicht.
Mein Anspruch an mich selbst war: Heute vergegenwärtigst du dir noch einmal die beiden späten Aufsätze Marcuses, in denen er der “marxistischen Verdinglichung” der Kunst (ihre Instrumentalisierung für die vermeintlichen “Erfordernisse des Klassenkampfs”) die Leviten liest und seine eigene Ästhetische Theorie (die in der Autonomie der Kunst das tiefere Zerwürfnis mit dem Bestehenden ansiedelt) darlegt. Die beiden Texte tragen die Titel “Kunst und Revolution” (1972) sowie “Die Permanenz der Kunst” (1977).
Marcuse hat sich meist darauf beschränkt, seine Positionen an Beispielen der Literatur zu bebildern, weil, wie er selbst schreibt, er sich “nicht ausreichend qualifiziert” fühlte auch über Malerei und Musik zu sprechen. Außerdem darf angenommen werden, daß die Musik, von der seine Studenten schwärmten, nicht sein allergrößtes Interesse fand. Im Alter von über siebzig Jahren verliert man die Ambition, auf dem allerneuesten diesbezüglichen Stand zu sein. Und dennoch, dennoch: Manchmal streut er sehr böse Worte gegen das (“Rock”)Festival-Geschehen so um 1970 ein (in einer Fußnote ausgerechnet gegen die wunderbare Sängerin Grace Slick von “Jefferson Airplane”, die ich mal verehrte!) – und dann offenbart er auch noch, für wen er sich so richtig begeistern kann: “Die politische Dimension bleibt dem Anderen, der ästhetischen Dimension verpflichtet (…) Das geschieht auch in einigen zeitgenössischen radikalen Protestsongs, besonders in der Lyrik und Musik Bob Dylans. Die Schönheit, die “Seele” kehrt wieder: nicht die `in food` oder `on ice`, sondern die alte und unterdrückte, die im Lied lebte: cantabile. Sie wird zur Form des subversiven Gehalts, nicht als künstliche Wiederbelebung, sondern als `Wiederkehr des Unterdrückten`. Die Musik entfaltet den Gesang bis zum Punkt der Rebellion, an dem die Stimme, in Wort und Ton, mit der Melodie, dem Gesang aufhört und in einen Aufschrei übergeht.”
(Es gibt noch eine Passage, da nennt Marcuse Bob Dylan in einem Atemzug mit z.B. Verdi, Picasso, Flaubert und Joyce.)
Das, davon wollte ich ja berichten, das war der Moment, als meine mit mir selbst verabredete “Fokussierung” auf Marcuses Überlegungen zur Kunst in die Binsen ging.
Denn – frage ich die wohl mehrheitlich in diesem Punkt unwissende Leserschaft der `randnotizen`- wer war der gewiß kenntnisreichste “Dylan-Erforscher” im deutschsprachigen Raum? Es war der Sozialwissenschafter und Sexualforscher (sein Bestseller “Sex-Front” wurde von 1970 bis heute 500 000 mal verkauft), der große Forscher über den Zusammenhang von Kapitalismus und Drogen (ich empfehle: “No Drugs – no Future”) und eben der Bob Dylan-Entschlüsseler (lesenswert: “The Never Ending-Tour” und “Back to the Sixties”) GÜNTER AMENDT.
Einige seiner wichtigsten Thesen bruchstückhaft erinnernd (mein Gehirn wird diesbezüglich jedes Jahr etwas unzuverlässiger) und an einige kluge Diskussionen mit Günter denkend – und natürlich auch an seinen besonders unfaßlichen Tod, an einer Ampel in Hamburg-Eppendorf stehend von einem PKW erwischt – geriet ich jedenfalls in einige Entfernung zu Marcuses Theorie.
Vielleicht läßt sich ja ein Leser der `randnotizen` von dieser Abschweifung anstecken und ruft mal “Günter Amendt” im Netz auf – und liest was von ihm. Es lohnt.

P.S. Und Dylan, glaube ich, sollte irgendwie eine Rolle spielen, bei unserem Konzert-Theater.