Unterwasserboot

27. 7. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Wesen begegnen mir, die mich dazu bringen, über Wirklichkeit nachzudenken. Anstatt mich meinen Begriff von Wirklichkeit hinterfragen zu lassen, wie wir alle das von Zeit zu Zeit tun sollten, als Mittel gegen die Arroganz und die Selbstherrlichkeit und die Simplifizierung, wecken sie in mir das Gefühl, meine Wirklichkeit verteidigen zu müssen. Ich denke vorerst nicht über Wirklichkeit nach, sondern über diese Wesen.

Junge Menschen, die unvermutet vor meinem Fahrrad auftauchen und in träumerischer Langsamkeit den Radweg queren. Sie nehmen keine Notiz davon, dass ich abbremse und in einem Bogen um sie herumfahre, bemerken nicht meinen verärgerten Gesichtsausdruck und nicht, dass ich sie schließlich beobachte, fasziniert von der Erfahrung, ein Wesen aus einer anderen Welt durch den eigenen Lebensraum ziehen zu sehen. Sie leben offenbar in magischer Verbindung mit dem Gerät in ihrer Hand, egal ob es über dünne Kabel mit ihren Ohren verbunden ist oder nicht. Sie heben nicht den Blick, sie bewegen sich weiter, wie Fische in einem See. Irgendwann halten sie das Gerät in Höhe ihres Kopfes am ausgestreckten Arm von sich, und unter dem Blick ihres Gerätes beleben sie sich, sie lächeln, machen Kussmund, Schmollmund, fassen sich selbst ins Gesicht oder umarmen ein anderes Wesen, in dessen Begleitung sie unterwegs sind, und die ganze Zeit über bleibt die magische Verbindung mit dem Gerät aufrecht, nicht einen Moment wenden sie den Blick davon ab. Einmal tauchte ein solches Wesen so unvermittelt vor mir auf, dass ich schlitternd bremste, brüllte und direkt vor ihm zu stehen kam. Das Wesen, es war ein Mädchen, hat keinen Abwehrreflex gezeigt, es hat keinen Arm gegen die Gefahr ausgestreckt, aber es hat den Blick von dem Gerät in seiner rechten Hand gehoben, und seine Augen waren auf mich gerichtet. Es war aber nicht so, als sehe sie mich an. Atemlos schaute ich in dieses Gesicht und in diese Augen, die keine Spur von Furcht oder Schrecken aufwiesen, sondern nur einen Hauch von Verwunderung, als habe etwas sie gestreift, etwas Eigenartiges, Ungreifbares aus einer anderen Wirklichkeit, Proust hätte gesagt, eine Erinnerung. Und wie wir bei einer flüchtigen Erinnerung innehalten, für einen ganz kleinen Augenblick nur, während dem man aber in uns hineinsehen könnte, uns dann wieder abwenden, immer wenden wir uns instinktiv zur Seite, in eine andere Richtung, der Wirklichkeit zu, manchmal schütteln wir unwillkürlich den Kopf, so wandte dieses Mädchenwesen sich ab, beugte den Nacken und nahm den Blickkontakt zu ihrem Gerät wieder auf, drehte sich zur Seite und tauchte weiter wie ein Unterwasserboot, das die Umgebung nur über Messgeräte vermittelt, durch Kameras, Echolote und winzige Bullaugen aus dickem Glas wahrnimmt.

Der Begriff der Wirklichkeit war nie eindeutig, sondern immer heftig umkämpft, nicht nur zwischen Denkschulen, Disziplinen, nicht nur zwischen Gruppen und Individuen, sondern auch innerhalb des Einzelnen. Dass die Wirklichkeit ebenso schwindlig ist wie die Geschöpfe, die unablässig an ihr werken, ist nicht neu. Mir aber kommt der Verdacht, dass die Zweifel an der Wirklichkeit verschwindend sind, dass sie, die Wirklichkeit, eine Pauperisierung erfährt, zugleich mit einer großen Akzeptanz, wobei die Akzeptanz wie so oft viel Ignoranz in sich trägt. Die Wirklichkeit, die Schöne, Geheimnisvolle, die Vielschichtige, Tückische, Undurchschaubare, die Mystische, Hässliche, Grausame, Ungreifbare, interessiert gar niemanden mehr, denn es sind Wesen in ihr unterwegs, denen die Wirklichkeit nicht real genug zu sein scheint.