Selbst Marcuse kann mal entgleisen

31. 7. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Einen großen Denker zu studieren – und Herbert Marcuse ist ein solcher – birgt eine Gefahr. Jedenfalls ist das bei mir so. Man (oder ich) ist mehr bemüht, alles zu begreifen, auch Bemerkungen am Rande nicht zu übersehen – man ist also mehr Schüler im ursprünglichen Sinne und weniger der kritisch reflektierende Leser. Man ist im Strudel der (so gut formulierten!) Erkenntnisse, läßt sich fortreißen. Ich schäme mich dieser Tatsache nicht wirklich.
Ich habe gerade noch einmal “Die Permanenz der Kunst” gelesen (1977). Marcuse ist so um die Achtzig. Einige politische Kämpfe, denen er große Wertschätzung entgegenbrachte, stecken in einer Sackgasse oder haben sich als weniger glorreich erwiesen.
Er gesteht also – und schon das Geständnis zeichnet ihn aus: “Die Beschäftigung mit ästhetischer Theorie bedarf der Rechtfertigung in einer gesellschaftlichen Situation, in der die elende Realität nur durch die radikale politische Praxis verändert werden kann. Sinnlos, die VERZWEIFLUNG zu leugnen, die in dieser Beschäftigung steckt: Rückzug in eine Dimension, in der das Bestehende nur in der Einbildungskraft überschritten wird: Welt der Fiktion.” Was er dann zu Papier bringt, ist – wenn der Ausdruck erlaubt ist – die denkbar lustvollste Verzweiflung, eine scharfsinnige Polemik gegen die Zumutung, Literatur müsse realistisch, dem Proletariat dienend und dem politischen Fortschritt dienlich sein.
Sicher fühlt er sich bei den Autoren, die er schon als junger Intellektueller gelesen hatte (über die so heftig um das Jahr 1930 gestritten wurde) – und natürlich auch bei seinen späteren Favoriten wie Beckett oder Celan. Wer die These verfolgt, daß die Qualität eines (literarischen) Kunstwerks keine Kausalität mit der politischen Gesinnung des Schriftstellers besitzen muß – greift (schon nachzulesen bei Adorno und verschämt zugegeben von Friedrich Engels) recht gerne zum Vergleich zwischen dem konservativen Balzac und dem progressiven Zola. Dieses berühmte Beispiel habe ich vor langer Zeit einmal im “Selbstversuch” zu verifizieren versucht. Das Experiment schlug fehl: Balzac, ganz ehrlich, hat mich gelangweilt. Die Begeisterung der Kritischen Theorie für ihn vermochte ich nicht zu empfinden, obgleich ich die (theoretischen) Argumente zu seinen Gunsten verstand.
Das ist nun einmal periodisch so – und in Momenten des Selbstzweifels schiebt man das auf eigene musische Verstümmelungen. Anderntags eher auf eine Macke von Adorno oder Marcuse. Und wenn ich mich so richtig mit ihnen einig fühlen möchte – Frankreich und seine Literatur des 19. Jahrhunderts betreffend – dann inszeniere ich (wie mehrfach in Hamburg geschehen; mit Harry Rowohlt als Frontmann) Maupassant. Das hat – lesen Sie selbst mal wieder – Esprit!
Aber das sind Bagatellen, Marginalien, Fußnoten und Nebenwidersprüche. Ich wollte ja berichten, daß Marcuse, bei aller theoretischen Durchdringung, manchmal, wenn er konkret wird, ein Rad ab hat. Einen völligen Dachschaden. An Geschmacksverirrung leidet.
Kontrastieren wir, um den ganzen Schrecken zu offenbaren, also das theoretische Postulat mit dem Exempel.
Kunst müsse, wenn sie Ansprüchen genügen wolle, “die herrschenden Formen der Wahrnehmung und des Verstehens untergraben, eine Anklage der bestehenden Realität darstellen und das Bild der Befreiung aufscheinen lassen.”
Dieser Anspruch bedinge eine “Tyrannei der Form: in den authentischen Kunstwerken herrscht eine Notwendigkeit, unter deren Diktat kein Wort, keine Zeile, kein Klang durch andere ersetzt werden kann (im Optimalfall, der nicht existiert!). Diese innere Notwendigkeit (Qualität, die authentische von unechten Werken unterscheidet) ist wirklich `Tyrannei` , insofern sie die Unmittelbarkeit, Direktheit des Ausdrucks unterdrückt.”
Ein ganz schön strenger Maßstab ist das, nur unwesentlich gemildert durch den Hinweis, kein Künstler könne ihm ganz gerecht werden.
Und nun kommt´s, der Schock. In einer Aufzählung, wer diesen Anforderungen gewachsen ist, also zwischen so ehrenwerten Dichtern wie Goethe, Brecht, Blake, Rimbaud, Büchner, Kafka, Beckett und Celan findet sich auch – und das auch noch an zwei Stellen von Marcuses Schrift GÜNTER GRASS und sein Roman “HUNDEJAHRE”.
Kein Mensch von Geschmack wird bestreiten, daß dieser Autor und dieser Roman die herrschenden Formen des Verstehens geradezu kultiviert; daß eine Unzahl von Worten und Zeilen sowohl ersetzbar als auch streichbar als auch verdoppelbar sind.
Wie kommt Marcuse auf den Unsinn? Er muß bei der Lektüre besoffen gewesen sein. Es gibt keine andere Erklärung. Der Meister war restlos abgefüllt. Oder stärkere Drogen? Und sein Lektor hatte Liebeskummer. Oder Zahnschmerzen. Kann alles passieren. Ich war mal so bekifft, daß mir dieses Neujahrskonzert aus Wien richtig gut gefallen hat.