Reise in den steirischen herbst

1. 10. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Nach einigen Wochen in der brandenburgischen Einsamkeit eines Aufenthaltsstipendiums machte ich mich auf den Weg nach Graz. Ich landete zunächst am Berliner Südkreuz und betrachtete schutzlos staunend jedes der unübersehbar vielen Gesichter, die verbissen bis trostlos durch mein Blickfeld strömten. Ich musste lachen, als ich versuchte, mit meinem Koffer aus der S-Bahn hinauszugelangen, und nur deshalb wichen die Menschen befremdet zurück: um das Lachen möglichst schnell nach draußen zu lassen. Nachdem ich wochenlang jeden Tag durch Wälder gestreift und übers Land und durch Dörfer geradelt war, ohne jemandem zu begegnen, reihte ich mich am Flughafen Tegel unter die Wartenden, die sich an Bändern entlang um Stempen schlängelten. Mit der Neugier eines Forschers unterzog ich mich den modernen Prozeduren des Absurden, klaglos warf ich meine volle Wasserflasche in den Müll, ungläubig kichernd bezahlte ich zwei Euro fünfundachtzig Cent für null komma fünfundzwanzig Liter stilles Wasser, und fasziniert verfolgte ich das Treiben der Verkäuferin, als sie die wertvolle kleine Wasserflasche in ein Plastiknetz und gemeinsam mit der Rechnung in eine Plastiktüte steckte, die sodann versiegelt wurde.

Meine Abstumpfung hatte gelitten unter der Stille und der Natur, meine Sinne waren offener geworden, und kurz brachte ich auch Verwirrung in die Abgestumpftheit der Mitarbeiterin an der Sicherheitskontrolle, die mich blicklos abtastete. Als ich auf sie zutrat, hatte sie nicht sehen können, dass meine Bluse hinten tief ausgeschnitten war, und als ihre Hände unvorbereitet auf meinem nackten Rücken zu liegen kamen, gab sie ein „Huch“ von sich und sah mir ins Gesicht, als käme ihr erst jetzt die unpassende Nähe ihres Tuns zu Bewusstsein. Ich lächelte sie an und half ihr so, mit einem leichten Ekel in ihre frühere Distanz zurückzukehren, um mit ihren Fingern in meinen Hosenbund zu fassen. Derselbe leise Ekel vor den Passagieren spielte auch um die Münder der Stewardessen, die dann im Flugzeug mit unangebrachtem Aufwand und Pathos winzige Snacks ausgaben. Eine von ihnen verabschiedete sich jedoch in der Unsichtbarkeit des Mikrofons, als hätte sie gegen Ende des Fluges unerwarteterweise eine tiefe Zuneigung zu uns allen gefasst. Sie wünschte uns nicht nur einen guten Start in den Tag, sondern auch eine erfolgreiche Woche, und alle fühlten sich sehr leistungsträgerhaft und waren überzeugt, auf einer wichtigen Dienstreise unterwegs zu sein. Die Frau am Mikrofon, die wir nicht sehen konnten, dachte aber auch an jene, die weiterreisen würden, auch ihnen wünschte sie Angenehmes, sie vergaß nicht die Kinder und nicht das Wetter, und ich konnte an ihrer Stimme hören, dass Rührung sie übermannte, als sie zum Schluss sagte: „Alles Liebe für Sie“.

Jeden einzelnen Passagier verabschiedete sie mit ihrer Kollegin noch einmal beim Ausstieg, und wahrscheinlich schämte sie sich für ihren emotionalen Ausbruch vorhin am Mikrofon, denn nun wirkte sie wieder sehr kühl und auf Abstand bedacht. Etwas musste sich verschoben haben in mir in der Abgeschiedenheit, denn die Welt schien plötzlich voll von Unangebrachtheiten. Unangebracht, dass mich die Kronenzeitung in meterhohen Lettern in der Heimat willkommen hieß, unangebracht das riesenhafte Schnitzel auf dem Bildschirm bei der Gepäckausgabe, unangebracht die ständigen Warnungen vor unbeaufsichtigten Gepäckstücken, während unbeaufsichtigte Kinder sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, und unangebracht die Hingabe, mit der Erwachsenenblicke über die gefährdeten Kinderköpfe hinweg auf die allüberall gegenwärtigen Screens geheftet waren.

Ohne an die Durchführbarkeit meines Vorsatzes zu glauben, beschloss ich, nie wieder mit dem Flugzeug zu reisen, weil ich das Gefühl hatte, all die Unangebrachtheit ließe mir den Schädel zerspringen. Ich beschloss, nicht wieder alle Neurosen unserer Zeit innerhalb weniger Stunden in schönster Blüte beobachten zu wollen, weil es mich traurig und verzweifelt machte, und als ich die Flughafenversuchsanstalt verließ, hatte ich meine Wahrnehmung gezügelt, mein Lächeln abgeschminkt und meinen Blick zu Boden gerichtet.

Jetzt aber bin ich im steirischen herbst angekommen und werde offenen Auges herumlaufen, um zu sehen, wie die Dinge hier angebracht sind.