Strg-F, terrestrisch

9. 6. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Warum, erinnert er sich vage, geschrieben zu haben, gibt es keine Strg-F-Funktion für die Wirklichkeit? – Er findet selten etwas Brauchbares. Findet keine Klamotten, die er noch auftragen, oder MP3-Player, die er verwenden könnte. Keine Benzinfeuerzeuge, keine Wegweiser. Was er findet, sind Klischees. Ein Handy, einmal und gegen jede Vernunft, mit einem privaten Sexvideo. Oder die Spinne im Bananenkarton. (Keine Vogelspinne freilich, aber ein Weberknecht, immerhin.) Was er findet, ist Sprache. Wörter: mots trouvés. Nicht Graffiti, die findet jeder. Und ihre tendenzielle Redundanz und ihre tendenziöse Dummheit langweilen ihn. Auch nicht die Sätze in verwehten und an zufälliger Stelle aufgeschlagenen Zeitungen. Er denkt dabei an: Z.B. an der Gegensprechanlage zu einem Haus, an dem er täglich vorbeigeht, klebt seit Monaten das Preisschild eines Baumarktes. Der Preis beträgt 4.95 Euro. Der Produktname lautet: Sukkulenten in Herzkeramik. Er würde gerne einen Text mit diesem Titel schreiben. Eine Erzählung, einen Roman. Aber er weiß, dass er dem Titel, einem Preisschild, niemals gerecht werden könnte. Und was er findet, ist am öftesten: die Welt, so wie sie ihm wahlweise entgegentritt, zum Kotzen.

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Was er findet, sind Bildketten. Details und Nebensächlichkeiten, in der Wirklichkeit ausgestreute Rebusse. Sie fallen ihm einzweidrei Mal auf, dann sieht er sich gezielt nach ihnen um. Fahrradschlösser etwa, die nichts mehr verschließen. Sie liegen am Asphalt, sonnenbleich, spröde. Im Mittelpunkt des Ovals, das sie bilden, wächst die Stange eines Verkehrszeichens oder einer Ampel in den Himmel. Oder sie hängen – dürre, mehrfach verschlungene und sich in den Schwanz beißende Uroboros-Schlangen – an Zäunen und Gittern. Sie schließen nichts ein und schließen nichts aus. Versperrtes Nichts, denkt er, das ist alles. Einkaufswagen etwa. Sie sind irgendwo abgestellt und füllen sich mit Müll, bis … bis sie irgendwann nicht mehr da sind, fortgeschoben aus seinem Blickfeld, wohin immer.

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Lange Zeit nimmt er die Sternenkette wahr, wie jede andere Bildkette auch. Er freut sich über die Fläschchen und Kappen und Kartons, die er findet, weil sie ihn und das, was er denkt, bestätigen. Dann ist es ihm nicht mehr genug, er will mehr. Anderes. Das bloße visuelle Abgrasen der Wirklichkeitsuntergründe und das kurze Innehalten im Rot genügen ihm nicht mehr, er will festhalten, die Kette in Ketten legen. Plan- und ziellos beginnt er, die Fläschchen, Relikte verschobener Einsamkeit, zu fotografieren. Und ohne dass es ihm sofort auffällt, ändert sich etwas: Er nimmt dem Finden das Zufällig. Sucht jetzt gezielt und das Gefundene widerfährt ihm nicht länger. Ein alter Trott: Seine Begegnungen mit der Wirklichkeit sind immer von Erwartungshaltungen geprägt, die, er weiß es vorweg und hält dennoch an ihnen fest, unerfüllbar sind, während nur der wirkliche, d.h. zufällige Fund über alle Erwartungen hinausgeht, weil ihm keine Erwartungen zugrunde liegen. Außerdem denkt er: Finden passiert ohne Erblasser und ohne Erben. Finden ist die Form des Erbens, die ohne Tod auskommt. (Canetti-Erbe: synchron, horizontal, ebenerdig.)