Motivation Gegenkollekte

18. 6. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Sammeln? Die einzige Sammlung, an die er sich erinnern kann: Briefmarken. (Klassischer Sammelkanon, denkt er: Schon damals ein Klischee, die Sammlung selbst, Meta-Klischee.) Das Sammeln führt zu Fokussierung und Monomanie: die Fünf-Schilling-Standardmarke, verwendet für den Gutteil der verschickten Briefe und Karten. (Ein oranger Rahmen, darin eine Radierung, weinrot, braun: Stift St. Paul im Lavanttal, Kärnten. In der rechten oberen Ecke: 5s.) Irgendwann beginnt er, ausschließlich diese Marke zu sammeln. Es ist ein leichtes, sie zu bekommen, niemand sonst will sie. Seine Sammlung wächst schneller als die von jedem anderen. Ein erstes Album, ein zweites, beide Din-A-5, beim dritten steigt er auf Din-A-4 um. Andere bemerken seinen Wahn und verlangen ein Tauschobjekt für die Standardmarke. Er verhandelt hart, lässt sich nicht überrumpeln. (Sein größter Erfolg: Fünfzig Fünf-Schilling-Marken für einen gestempelten Kaiserkopf. Fünf Heller.) Dann sind seine Tauschmöglichkeiten erschöpft und er bekommt die Marken wieder umsonst. – Jahre später fallen ihm die Alben in die Hände. Er nimmt eine Marke und klebt sie auf eine Postkarte. Darauf die nächste. So fährt er fort, Marke um Marke um Marke, alle siebzehn Alben. Der Turm, der dabei entsteht, ist ernüchternd niedrig.

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Sammeln? Er hat zwei Bilder im Kopf. Bild eins: Wandernde Isis, Totengöttin, die die Teile des ermordeten und zerstückelten Osiris, Gott der Unterwelt, zusammenträgt, zusammensetzt und durch ihre Klagen wieder zum Leben erweckt. Bild zwei: Schechina, in chassidischer Tradition: Wohnstatt Gottes, zerbrochenes Gefäß der Schöpfung, die Funken über alle Welt verteilt. Gerechte wandern, um sie einzusammeln, zusammenzusetzen und die Erlösung einzuleiten. Sammeln? Die Bilder haben zwei Gemeinsamkeiten. Gemeinsamkeit eins: Sammeln als konservierende, restaurierende Bewegung. Wiederhergestellt wird ein früherer, besserer Ursprungszustand als Zukunftsentwurf, back to the future. Gemeinsamkeit zwei: Die Anzahl der zu sammelnden Dinge, der Teile des Ursprungsganzen, sind begrenzt. Sammeln ist endlich, beschränkt durch die möglichen Sammelobjekte. Sammeln? Die Sammlung, zu der er sich entschlossen hat, teilt die Gemeinsamkeiten nicht. Nichts wird dadurch wiederhergestellt. Kein Gott durch die Kappen, kein Gefäß durch die Scherben. Und: Seine Sammlung ist potentiell unendlich. Sie zielt allein auf Quantität, auf die reine, unabschließbare Menge. Standardbriefmarkensammlung. Nur eine künstlich gezogene Grenze – zeitlich: bis Oktober, numerisch: hundert Fotos oder tausend – könnte sie beenden.

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Vielleicht gibt es noch eine dritte Gemeinsamkeit, denkt er, eine, an der er teilhat. Die Bewegung des Sammelns ist begleitet (deckungsgleich?) mit körperlicher Bewegung: Sammeln = Wandern. (Ebenerdig, horizontal.) Auch er geht suchend und sucht gehend. (Immer. Schon.) Und vielleicht, denkt er, ist auch sein Sammeln begrenzt. Von ihm selbst, von den Begriffen, die sich im Gehen einstellen: Mit der wachsenden Anzahl von Fotografien zerfällt die Bildkette in eine Serie von Motivketten. Subbegriffe zu jenem Begriff (Standard-Marken-Begriff) Stern, der sein Sammeln überhaupt erst möglichgemacht hat. (BEGRIFF: Gesammelt wird stets Gleiches. Und dank ihrer Gleichheit lassen sich viele Dinge dennoch mit einem Begriff bezeichnen: Durch den Begriff kommt Gleiches zu Gleichem. – Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch.) Eine Wolke aus Worten entsteht in seinem Kopf, unterschiedliche Schriftgrößen, unterschiedliche Semantik des Einen und Gleichen: Tarnung. Nähe. Deformation. Konglomerat. Erblasst (Sic!). Fluchtpunkt. Kontext. Devianz. Sollbruchstellen. Müll. Nischen. Streuung. Häutung. Dreifaltigkeit. Usw. Subbegriffe, Submotive: So penetrant und halsstarrig, wie Motive sonst nur in Märchen wiederkehren.