Zum Beispiel Einsamkeit

26. 6. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Der Mann öffnet die Packung, zieht ein Fläschchen heraus, schraubt die Kappe ab. Das erste Fläschchen trinkt er langsam, nippt nur daran. Er muss sich erst gewöhnen: an die Schärfe, das Brennen, die Bitterkeit. Kleine Schlückchen, dazwischen lässt er Zeit verstreichen und Gedanken. Gedanken an roten Absinth, damals. Der Geschmack war intensiver, das Brennen war intensiver, und er selbst war ein anderer, damals. Das zweite Fläschchen trinkt er in einem Zug. Er hat bittere Getränke immer gemocht, verstreicht ein Gedanke, und bittere Nahrungsmittel. Damals, als Bitterkeit eine Geschmacksrichtung war und kein Charakterzug, kein Verhältnis zur Welt. Am letzten Fläschchen saugt er, nuckelt er. Es ist das letzte für heute, für noch eine weitere Packung fehlt das Geld, darum: bis auf den letzten Tropfen. Dann schließt er die Augen und lässt die Zeit verstreichen. Keine Gedanken, nur der anhaltende Nachgeschmack von Sternanis, der sich in Ruhe auflöst. – Auf der Bank neben dem Mann sitzt ein Mann. Sonst sprechen sie miteinander. Jetzt herrscht Schweigen. Diese Minuten gehören ihm, sie stehen ihm zu. Ihm, dem anderen Mann, dagegen nicht, er hat nicht mehr das Geld dafür.

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Am öftesten findet er einzelne Fläschchen. Verloren irgendwo, wie zufällig. Er fragt sich, ob manche von ihnen derselben Packung entstammen. Selten ist die Genealogie rekonstruierbar, der Hergang der Dinge eindeutig. Eine Straße – er nennt sie: x-beliebig –, morgens, auf dem Weg: Er findet zunächst die Schachtel. Zusammengeknüllt, aggressiv, zwischen einem Stromkasten und einer Hausmauer. (Wiederkehrende Nische, in der er noch nie das gefunden hat, was er sucht.) Und dann, im Abstand von zwanzig, dreißig Metern die Fläschchen. Eines nach dem anderen, drei Stück, alle wieder zugeschraubt. Es liegt auf der Hand, dass sie derselben Packung entstammen, trotzdem kann er (kann sein Fotoapparat) sie nur noch isoliert wahrnehmen. Kein Weitwinkelobjektiv wäre in der Lage, sie in einem gemeinsamen Tableau festzuhalten. Und auch die, die trinken, nicht. Jeder trinkt für sich allein, isoliert und ausgestreut. Es ist kein Zigarettenpäckchen, das man herumreicht, man bietet niemandem einen Zug an. Sie mögen auf einer gemeinsamen Bank sitzen, sie mögen demselben Päckchen entspringen: Jemand nimmt und trennt und wirft sie. Geworfensein (Cf. M. Heidegger). Verwerfung (Cf. J. Lacan).

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Wie beim Schwammerlsuchen, denkt er: Es gibt bestimmte Stellen (mit roten Kappen markierte Punkte in seinem Gedächtnis), zu denen er, einmal fündig geworden, immer wieder zurückkehrt. Fundstellen, die wiederaufzusuchen halb rational begründet ist und halb einem kindischen Aberglauben entspringt. Bänke auf einem Bahnhofsvorplatz, zwischen welkenden Blumenbeeten und zweistöckigen Fahrradständern. Fast ist es unmöglich, hier enttäuscht zu werden. Am Boden unter einer Bank und wie für ihn arrangiert, findet er, was er sucht: Fünf verstreute Kappen, deren Isolierung er in einem Bild festhalten kann. Ein Mann sitzt auf der Bank, und er will keine Menschen auf seinen Fotos sehen. (Auch dann nicht, wenn es nur zwei Beine sind.) Er schleicht um die Bank (um den Mann) herum, um eine menschenlose Einstellung zu finden. Es ist ihm unangenehm, er beobachtet, wie der Mann ihn beobachtet, kommentarlos, bewegungslos. Endlich gelingt ihm das Foto, und er will gehen. Der Mann räuspert sich und hält ihm das rote Päckchen wie eine Zigarettenpackung hin. Er nickt und sagt: Du hast es nötiger.