ggT: Tierkreiszeichen Hund

5. 8. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Eine Ansammlung. Unweigerlich denkt er: Mutterschiff, Homebase. Die Gruppe, versammelt um einige Bänke, ist nicht einheitlich. Die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, so disparat, dass er nicht weiß, ob er sie eine Gruppe nennen soll. (Kann. Darf.) Teilen sie mehr, als die räumliche Nähe? Den Ort, an dem wer immer sie zusammengeführt hat? Was wäre ihr Begriff? Ihr, er erinnert sich an den Mathematikunterricht, größter gemeinsamer Teiler? Und er denkt: ggT: Stern. Zwischen blausilbernen Bierdosen und grünen Plastikdoppelliterflaschen stehen die roten Kartonquader. (Manche geöffnet, manche leer. Manche zusammengeknüllt, manche verschoben. Auf ein unsicheres Später.) Ein Ort und der ggT: Stern. Mehr Gemeinsamkeiten sieht er nicht. Er sieht: Männer und Frauen. Junge und Alte. Migrationshintergrund und keinen. (Er sieht als Möglichkeit: Migrationsvordergrund. Für sich.) Sieht sprechende (laut und gestikulierend sprechende) Menschen und schweigende (laut und gestikulierend schweigende) Menschen. Jemand steht auf, geht zu einem Blumenkistchen, pinkelt. Jemand bleibt auf der Bank sitzen. Jemand raucht, jemand hustet, jemand trinkt. Jemand geht weg und kommt nicht wieder. Jemand geht weiter, und erst im Weitergehen wird ihm klar, dass er dieser Jemand ist.

Nachschrift: Einer der Vorteile seines Sammelns und des ständig auf den Boden gerichteten Blickes, denkt er, ist: Er tritt in keine Hundehaufen mehr. (Fast …)

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Eine Theorie: Egal, wie pleite man sein mag, denkt er, für drei Dinge ist immer noch Geld da: für Alkohol, für Zigaretten und für den Hund. Der Mann sitzt auf einem kniehohen Mäuerchen im Anschluss der Bänke und im Ausschluss der Gruppe. Er ist jung, zu jung wahrscheinlich für den Zusammenhang. Sein Haar ist bunt. Der Hund liegt ihm zu Füßen auf dem Asphalt. Der Kopf auf den Vorderbeinen ruhend. Hechelnd. Er liegt da, als wäre er dem Mann zugelaufen, so wie der Mann dasitzt, als wäre er dem Hund zugelaufen. Beide auf der Flucht vor etwas, beide einander unbekannter Fluchtpunkt. Der Hund, jeder Hund, denkt er, ist das verwaiste Tier der Straße. (Während die Katze das Tier der Obdachlosigkeit inmitten der eigenen vier Wände ist.) Vagabundierende Hunde und geerdete Sterne sind die letzten Haltegriffe. Ohne sie ist alles haltlos. Er geht weiter und im Weitergehen wird ihm bewusst, dass das Tier, mit dem er die Straße teilen wird, für das er zuletzt noch Geld haben wird (wie für den Alkohol und die Zigaretten), eine Katze sein wird: Er wird auch auf der Straße die Obdachlosigkeit der eigenen vier Wände suchen.

Nachschrift: Die Hunde, die umherstreunen und an fremden, salzigen Händen lecken, die aufblicken und den Blick rasch (und wie beschämt) wieder senken, sie kommen aus der fünften Himmelsrichtung, sie sind den Romanen Dostojewskijs entlaufen. Denkt er.

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Eine Frau – sie ist ihm noch nie aufgefallen – betritt die Bühne (von rechts). Mit beiden Händen trägt sie einen abgeschnittenen, transparenten Plastikkübel mit Wasser zum Hund und stellt ihn vor ihm hin. Aus ihrer Hosentasche zieht sie ein Sternfläschchen und gibt es dem jungen Mann auf der Bank. Sie geht ab (nach links). Der Hund richtet sich auf, trinkt, schlabbert. Viel Wasser klatscht auf den Asphalt. Der Mann öffnet das Fläschchen, trinkt. Kein Tropfen geht verloren. Der Durst der beiden ist nicht zu stillen: Sie trinken Meerwasser inmitten eines Binnenlandes und können nicht aufhören, weil der Durst immer größer wird. Das Fläschchen ist geleert, der Mann lässt es auf den Boden fallen. Er dämpft das Fläschchen aus, wie er eine Zigarette ausdämpfen würde. Er dämpft das Fläschchen aus, wie er die Welt ausdämpfen würde. Wenn er könnte. Er sieht nach dem Hund und sieht dem Hund beim Trinken zu. In seinem Blick ist kein Neid und keine Wut: Der Hund, als einziger, hätte das Ausdämpfen der Welt überlebt. Der Blick des Mannes, denkt er, ist Tierblick geworden. (TIERBLICK: Denn nah am Tod sieht man den Tod nicht mehr und starrt hinaus, vielleicht mit großem Tierblick. – Rainer Maria Rilke, Die achte Duineser Elegie.) Er geht weiter, weil die Welt noch da ist. Nicht ausgedämpft, noch schwelend – und in Erwartung.

Nachschrift: Auch die Sterne haben etwas Hündisches, in ihnen bellt dasselbe kynische Aufbegehren. Und nach den Sternen, denkt er, hat Diogenes gegriffen, als wäre alles nur eine anekdotische Frage des Geh-mir-aus-der-Sonne. Nach dem größten Stern, hat er gegriffen, nach dem Mutterstern Sonne.