Devianz oder Die Geschobenen

8. 9. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Immer wieder kommt er enttäuscht von seinen Gängen zurück. Entweder weil: a) er ausschließlich Konkurrenzmarken findet: Magenbitter anderer Firmen mit anderen Namen, anderen Etiketten und anderen Kappen. (Auch ihre Bitterkeit, denkt er, wird eine andere sein.) Er ist enttäuscht, weil die Fläschchen ohne Anspruch auf seine Aufmerksamkeit seine Aufmerksamkeit beanspruchen, und enttäuscht (auf sich), weil er ihnen die Aufmerksamkeit vorenthält. Oder weil b) er zwar Sterne findet, aber nichts an ihnen hervorsticht: Es sind nur die immer gleichen, einfachen Einzelfläschchen, die er schon so oft gefunden und fast ebenso oft fotografiert (aktuell: 258) hat. Viel zu selten sind die Tableaus der Seelenverwandtschaft oder die Zufallsarrangements würfelnder Götter. Eine Unzufriedenheit (a) und eine Unzufriedenheit (b), und er versucht, sie in einer Unzufriedenheitssynthese (c) aufzuheben: Seine Unzufriedenheit basiert auf Devianz. Einmal (a) auf ihrem Vorhandensein (ein Zuviel der Abweichung) und einmal (b) auf ihrem Fehlen (ein Zuviel des Gleichen, denn auch die permanente Redundanz erscheint ihm deviant). Das, wonach er sich sehnt, das, was ihn zufrieden machen würde, wäre: permutierende Devianz. Ein, wie Deleuze sagen würde, Deviant-Werden.

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Er geht durch ein Museum, und weil es ihm bekannt ist, steuert er sofort seine Lieblingsabteilung an: Glaube und Aberglaube. Er sieht (durch Glas) in eine Dingwelt der Abweichungen. Eine verstummte Alraune. Haarbilder: filigrane Bäume und andere floral-stilisierte Muster aus dem Haar von Verstorbenen. Heiligenbilder und -statuen, die vierzehn Nothelfer. (Gibt es einen Heiligen, der für Säufer zuständig ist? Einen, der sie schützt im Wahn des Delirium tremens? Katharina vielleicht, die bei Leiden der Zunge und Sprachschwierigkeiten hilft. Oder Dionysius, dem Helfer bei Kopfschmerzen und Seelenleiden. Oder Christophorus, zuletzt, gegen den unvorbereiteten Tod.) Eine mumifizierte Katze, nur noch Knochen und eine pergamentene Haut ohne Fell. Ein Bauopfer, liest er, um etwaige Dämonen zu verscheuchen. Votivgaben aus Metall und Wachs und Holz. Ein ganzer Zoo (manche der Metall-Tiere haben die aussichtslos verlorene Physiologie von Giacometti-Skulpturen) und ein Arsenal humansomatischer Partialobjekte. – Kurz: Du siehst, wohin du siehst, nur Devianz in den Vitrinen. Jedes Objekt außergewöhnlich, außeralltäglich und hinausgreifend – weit – über die Norm. Das Museum, wie jedes Museum und jeder Sammler, sammelt dingliche Devianz und präsentiert sie als Repräsentanten gesteigerter Kultur. Seltsam, denkt er, denn Menschen, deviante Menschen … Seltsam, da er weiß, dass sich in dem Gebäude, in dem heute das Museum untergebracht ist, von 1788 an fast hundert Jahre lang das Tollhaus von Graz befunden hat.

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Das genormte Ding ist es nicht wert, gesammelt zu werden. (Allenfalls in der reinen Menge. Cf. Standardbriefmarken, cf. Stoppel.) Erst das Andere der Dingvernunft, sein Widerschein, macht es begehrenswert, erst der individuelle Defekt, die Per- und In-Versionen des Einen. Dagegen, denkt er, bei Menschen: Das Verschiedene wird zum Ausgeschiedenen. Der deviante Mensch, der sich dem Gleichen entzieht und das Andere oder Besondere oder Unverständliche widerscheinen lässt, wird interniert: er wird nicht gesammelt, sondern gelagert, nicht bewundert, sondern angestarrt, nicht aufgehoben, sondern abgeschoben. Das Begehren des Ding-Sammlers, denkt er, ist das lacansche Begehren der Metonymie, der begehrenden Verschiebung (für) entlang der endlosen Kette, Signifikant für Signifikant, Wort für Wort und Ding für Ding. Während das Begehren der Menschen-Ausrangierer einer Negativ-Metonymie der Abschiebung (von-zu) unterliegt: Die Abweichung ist die Abweichung des Anderen. D.h. ewige Abschiebung von Signifikant zu Signifikant, von Tollhaus zu Tollhaus, von Gefängnis zu Gefängnis, von Rand zu Rand und zuletzt: von Land zu Land. – Er schüttelt den Kopf und erinnert sich, dass mit Barbara sogar sie, die Totengräber, eine Nothelferin haben. Er verlässt das Museum, biegt ab und biegt ab und biegt ab, bis er die Orientierung verloren hat. Er setzt sich neben einen Mistkübel, in dem ein Fläschchen mit abweichendem Etikett liegt. Er fotografiert es, er ist zufrieden.