Stadtgut-Nischen

24. 9. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Er atmet auf. Weil die Hitze und die von ihr hervorgerufene Starre endlich abfallen. Weil der Herbst sich ankündigt und der Wind ihm das Gehen erleichtert. (Das Atmen, das Leben, die Traurigkeit.) Gerne folgt er den Dingen – Plastiktüten, Verpackungen, Zeitungsseiten –, die der Wind vor ihm herbläst. Stadtgut, das umher- und irgendwann angespült wird – an einem der zahllosen vertikalen Strände urbaner Meere. An den Mauern und Häusern am Ende von Sackgassen, an den Plakatwänden, an den Bahndämmen und Lärmschutzwänden. Oder das Stadtgut wird in Nischen geblasen, in kaum erkennbare Zwischenräume, Spalten und Klüfte. Dort ist es windstill, ohne Gezeitenspiel: nur noch Ebbe und Ruhe. (RUHE: Ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe und schlafen können. – Georg Büchner, Lenz.) Wohin, fragt er sich, weht der Wind diejenigen, deren Kappen fadenscheinig geworden sind? Gibt es Horte, in denen sie sich (unbeobachtet) sammeln können? Refugien, in denen sie sich verstecken wie die Dämonen in den Nischen der Gotik? – Denkt er an die Karte in seinem Kopf, dann ist die wichtigste Nische die Geschwindigkeit. Eine paradoxe Nische: erst die Unruhe der Umgebung macht ihnen Ruhe möglich, erst in der beschleunigten Hektik des Alltags können sie unsichtbar werden. Es sind Räume des Übergangs und Orte des Transits, an deren Rändern das Meer sie anspült: Durchzugsstraßen, Bahnhöfe, Parks, die andere allenfalls durchqueren (schnell), Passagen mit leerstehenden Geschäften. Im Fahrtwind der anderen können sie atmen und ein wenig schlafen.

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In einem der Parks liegt jeden Morgen unter einer Bank derselbe Mann. Er hat einen Mumienschlafsack, sein Rucksack ist ihm der Polster. Drei Plastiksäcke stellt er in seinem Rücken auf: Um das Nichteinsehbare, das Verletzlichste, um seine Rückgrat-Seele zu beschützen. Die Plastiksäcke sind mitunter fast leer. – Seitdem er ihn das erste Mal gesehen hat, fragt er sich, warum er unter der Bank schläft und nicht auf ihr. Er selbst hat oft auf Parkbänken geschlafen, nach Besäufnissen und noch öfter nach Konzerten. Die Bänke waren unbequem und sind über die Jahre noch unbequemer geworden. Dennoch wäre er nie auf die Idee gekommen, sich unter die Bank zu legen. Naturgemäß, denkt er, hat er nie lange auf Bänken geschlafen. Die aufeinanderfolgenden Nächte waren vorweg gezählt (einzzweidrei), nie waren Bänke eine voraussichtliche Dauerzukunft für ihn. Naturgemäß hat er also wieder einmal keine Ahnung und so beginnt er zu spintisieren: unter einer Bank zu liegen, d.h. ein Dach zu haben – ein Dach zu haben, d.h. ein Obdach zu haben – ein Obdach zu haben, d.h. privat zu sein – privat zu sein, d.h. unsichtbar zu sein – unsichtbar zu sein, d.h. sich eine wirkliche Nische auszubilden – sich eine wirkliche Nische auszubilden, d.h. dass man heimgehen kann, wenn es soweit ist. (WENNESSOWEITIST: Der Verlust des Ortes ist wie der Verlust eines Anderen, des letzten Anderen, des Phantoms, das einen empfängt, wenn man in seine einsame Wohnung zurückkehrt. – Marc Augé, Tagebuch eines Obdachlosen.) Mag auch das Dach dieses Heimes undicht sein, und mag auch der Regen zwischen den Brettern dieses Daches hindurchfallen. Der Mann, denkt er, kann sich einrollen – wie eine Katze in ihre Katzenobdachlosigkeit. Und er nimmt sich vor, fortan nach Konzerten unter der Bank zu schlafen.

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Nischen sind auch die Welt der Eidechsen. Eidechsen, denkt er, sind die Nischenbewohner schlechthin, weil sie keinen Unterschied sehen zwischen Horizontale und Vertikale: Ihnen ist alles ein Raum, das Kippen der Dimensionen permanent. Kopfüber wird ihnen selbst noch die Erde zum Obdach, und die Nische wird niemals eng, sie bleibt zum Verrücktwerden schön. (VERRÜCKTWERDEN: Once I had a little game / I liked to crawl back in my brain / I think you know the game I mean / I mean the game called ‘Go insane’. – Jim Morrison, Celebration Of The Lizard.) Er würde, hätte er den Mut dazu, eine Eidechsenphilosophie gründen (so wie Diogenes seine Hundephilosophie gegründet hat) und Regeln aufstellen (so wie Diogenes es nie gemacht hätte). Regel I: You do not talk about it. Regel II: You DO NOT talk about it. Regel III: Du bist ein Reptil, d.h. du wirst amphibisch: aus griech. amphí (auf beiden Seiten) und bíos (Leben), d.h. du wirst ambivalent bis in die abgeworfene Schwanzspitze hinein, d.h.: du bist das doppelte Leben: Den Körper (in Teilen, entlang der Sollbruchstellen) wirfst du von dir, um ihn wachsen zu lassen. Regel IV: Du wirst, wenn es so weit ist, zur Schlange und wirfst auch noch die Beine ab. Du spaltest deine Zunge, du spaltest deine Seele: You go insane. Regel V: Du häutest dich beständig. Jede Hornhaut ist Lüge. Regel VI: Vom Hundekönig borgst du dir die Tonne: Die Nische, die du überall hintragen kannst. Regel VII: Du gehst auf allen Vieren. Du gehst die Wände hoch. Du gehst dir selbst aus der Sonne. Regel VIII: Du hast den Tierblick. Regel IX: Du hast alles hinter dir, d.h. du hast länger keine Herkunft mehr. Du gehst zurück in die Zukunft. (…) Regel XXIII: Du bildest Nischen im Denken. D.h.: Jede Regel ist hinfällig.