Engführung (Für F‘)

7. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

S138_sw

Sie ist in der Lage, sich frei zu bewegen, von A nach B oder C, von E nach D, aber auch von G nach G. (Frei, auch deshalb, weil sie nicht an Freiheit glauben will. Nicht einmal mehr an die Befreiung und ihre Permanenz.) Sie zieht einen Fahrradanhänger hinter sich her, einen Fahrradanhänger für Kleinkinder. (Obwohl sie nie Kinder gehabt hat, keine kleinen und keine großgewordenen.) Im Anhänger befindet sich das Notwendigste: ein Schlafsack, Semmeln, die für den Verkauf zu trocken geworden sind, ein Album mit Fotografien, eine Porzellanpuppe, dessen Gesicht von einem dichten Netz aus Craquelés überzogen ist. Rote Kartons mit den drei Fläschchen. (Ihre Anzahl divergiert, ist abhängig von den finanziellen Möglichkeiten.) Sie wandert von Telefonzelle zu Telefonzelle. – Nachschrift als kategorischer Imperativ: Lies nicht mehr – schau! / Schau nicht mehr – geh! (Paul Celan, Engführung.)

S048_sw

Worin, fragt er sich, mag der Unterschied zwischen Nische (= Hort) und Gefängnis liegen? Für wen wird es eng? Ist es allein eine Frage von Quadratmetern? Liegt es an der Kluft, die sich zwischen Selbstbestimmung und Fremdzuweisung auftut? Daran, dass sie sich nicht selbst einfrieden, sondern gesetzt werden, auf den einen Punkt, der den Lebenssatz abschließt? Daran, dass die Züge, scheint es, immer nur für die anderen abfahren, während sie selbst auf den Bänken verharren müssen? Im Binnenland der Hoffnungslosigkeit? Liegt es an der Zeit? An ihrem Stillstand, ihrem Vergehen? Oder liegt es im Zusammenspiel von Raum und Zeit: in der Division der Strecke durch die Zeit, deren Quotient eine sogenannte Geschwindigkeit sein soll? Bewegung, denkt er, egal mit welcher Geschwindigkeit, die alles und jeden, wie man sagt, erfasst haben soll: Beschleunigung und Dynamik als gegenwärtiges All-Phänomen, Aufbruch und Mobilisierung als Fanal der Zeit. Aber jeder, denkt er, ist niemand, und alles ist nichts – ohne den Kehrreim der anderen, parallelisierte Seite. (PARALLELE: so als würde die flexibilität der einen die immobilität der anderen zudecken, als wäre da eine parallelgesellschaft im gang, die in anderen zeit- und geschwindigkeitsverhältnissen lebt und aus der öffentlichkeit mehr und mehr verschwindet. ja, die segregation, entkoppelung und entmobiliserung ganzer schichten ist im gang. – kathrin röggla, disaster awareness fair.) Für die Langsamen, denkt er, für diejenigen, denen nichts mehr davonläuft und die ihrerseits nicht länger davonlaufen können (oder wollen), wird es eng. Für die Ziellosen, denen das Hierundjetzt zur wegschmelzenden Eisscholle wird, wird es eng. Für die verarmten Gespenster, die bizarren Schatten eines kalten, einseitigen Wirtschaftswachstums, wird es eng. Und wenn es keine Fragen mehr zu stellen geben wird, dann wird es auch für ihn eng werden. Nicht?

S070_sw

Sie wandert von Telefonzelle zu Telefonzelle. Hält vor jeder, betritt sie, trinkt ein Fläschchen oder auch ein ganzes Dreiermagazin. (Es divergiert, ist abhängig von den finanziellen Möglichkeiten.) Die Telefonzellen, in denen sie unterschlüpfen kann, werden von Jahr zu Jahr weniger, die Strecken, die sie zwischen ihnen zurücklegen muss, länger. Dafür sind die Telefonhörer rot geworden, wie die Sterne, als wäre jeder Anruf ein Notruf. (Vielleicht ist er es auch: für sie in jedem Fall.) Sie trinkt langsam, zögert die Zeit hinaus: Je länger sie bleibt, umso größer die Möglichkeit, dass ein Anruf eingeht. (An sie.) Sie kennt das aus amerikanischen Filmen, die sie früher einmal gesehen hat, weiß aber freilich nicht, ob öffentliche Telefone nur in amerikanischen Filmen oder auch in der österreichischen Wirklichkeit läuten. Sie weiß es nicht und ist dennoch überzeugt davon, dass einmal ein Telefon läuten und alles zum Guten hin ändern wird. Bislang war es nicht der Fall, aber bislang war vieles nicht der Fall. Außerdem ist da, in den Telefonzellen, diese herrliche Enge, die sie umgibt und sie stützt. Glaswände in jede Richtung, an denen sie sich anlehnen und durch die sie hindurchsehen kann. In Telefonzellen kann man nicht umfallen. Selbst dann nicht, wenn das Läuten auf sich warten lässt, und es langsam eng wird, für sie. – Nachschrift: die Nacht / braucht keine Sterne, nirgends / fragt es nach dir. (Paul Celan, Engführung.)

Nachbild: Der von Ihnen gewünschte …

S179_sw