Kopftausch setzt Enthauptung voraus …

14. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

S127_sw

Wenn er ihn sieht – und er könnte ihn täglich sehen, da er jeden Tag da ist, auf seiner Bank –, hat er mitunter das Gefühl (soll er es sich eingestehen: die Angst?), in einen Spiegel zu blicken. Das Bild, das der Mann ihm zurückwirft, ist nicht sein wirkliches, nicht das seines Vollzugsindikativs, es ist ein konjunktivisches Spiegelbild, in das er blickt. Ein Zerrspiegel also, der sein Bild jedoch nicht räumlich – in gedehnte oder gestauchte Flächen – verzerrt, sondern zeitlich: Der Spiegel dehnt seinen Blick aus in die Zukunft der Möglichkeitsformen. Er hat das Gefühl (die Angst?), dass der Mann er selbst ist, nur dass das Leben des Mannes, das auch sein Leben ist, früher, um zehn, zwanzig Jahre früher gestartet worden ist. Der Mann ist kein anderer, er ist ihm nur um einiges voraus: Er geht einen Schritt und er folgt ihm. Die Spur, die er zu hinterlassen glaubt, ist vorgegeben, von ihm. – Im Vorbeigehen zieht er Vergleiche, weil er das Zwischenmenschliche immer in den Vergleich zwingt. Der Mann hat einen wuchernden Vollbart. Einen viel stärkeren Bartwuchs als er. (Stellt er erleichtert fest.) Der Mann hat halblange, lockige Haare. Seine sind länger, aber das hat nichts zu sagen. Der Mann trägt bevorzugt Kapuzenpullover (wie er), einen grünen Parker (wie er, im Winter) und in Kniehöhe abgeschnittene Armeehosen (wie er, in der Obdachlosigkeit des Wohnens). Dann sucht er nach Unterschieden (d.h. er sucht sich zu beruhigen). Der Mann trägt eine Brille: er nicht. Der Mann hat immer glänzende, frischgeputzte Schuhe an: er so gut wie nie. Der Mann hat nie einen Rucksack (oder auch nur ein Sackerl) dabei: Er fast ständig. Der Mann ist meistens allein – doch an dieser Stelle streut er Sand ins Vergleichsgetriebe.

S030_sw

Der größte Unterschied (Unterschied groß U!) aber ist die Wollmütze, die der Mann aufhat, zu jeder Tages- und jeder Jahreszeit. Ihm selbst sind Wollmützen – Kopfbedeckungen überhaupt, aber vor allem Wollmützen – zum Symbol der Unterwerfung geworden, zum Symbol einer unentrinnbaren Unfreiheit. Dem Mann dagegen ist sie zum Refugium geworden. Die Mütze ist nicht rot (ergrautes Schwarz), aber er findet Schutz darunter. Sie schottet ihn ab, wenn es sein muss. Immer wieder zieht er sie tief ins Gesicht – bis unter die Nase zur Oberlippe –, um zu schlafen oder auch nur so zu tun, als würde er schlafen. Jedenfalls wagt niemand es, ihn anzusprechen: Unter der Haube ist er tabu. Vielleicht (wahrscheinlich) hilft die Mütze ihm auch, nicht den Kopf zu verlieren. Wie Maschendrahtzäune über Felsen gespannt werden, um Abbrüche zu vermeiden, ist das Wollnetz mit den großen und größer werdenden Löchern um seinen Kopf gespannt, um das Abbrechen der Gedanken, die immer auch ein Stück Kopf – Haut, Fleisch und Knochen – mit sich in den Abgrund reißen, zu verhindern. Die Gedanken sind schwer von Rotwein und Vergangenheit, und wenn sie losbrechen, fürchtet er immer um sein Leben. Irgendwann, mag er denken, wird er ausgedacht haben, nichts wird mehr da sein, als Leere und Leere. Dort, wo sein Kopf war, wird nichts sein als Sediment: Staub und Sand, zu dem sein Denken verfallen sein wird, sein Hoffen und Träumen. Und ohne die Mütze, mag er denken, wäre alles längst zu Ende gegangen.

S259_sw

Am nötigsten hat er die Mütze in den Nächten. Sie ist ihm Sturzhelm, wenn er aufsteht und fortgeht und dabei auf die Schnauze fällt oder gegen ein Metallgestell läuft. Sie wärmt seinen Kopf, wenn es außen kälter und finsterer und schwärzer wird, und auch das, was innen vorgeht, ihn frösteln lässt. Und sie schützt ihn, wenn der Rotwein innen, im Schädel, das Kommando übernimmt. Wenn das Denken ganze Fleischbrocken aus dem Kopf reißen will, wenn es ihn, um ihn endlich kopflos zu machen, innerlich köpft. Und wenn das Denken sich schließlich nach außen wendet und nach jemanden sucht, den es stattdessen vernichten kann, d.h.: Ich reiß‘ dir den Schädel ab. Noch (noch?) genügt es ihm dann, die Mütze ins Gesicht zu ziehen: tiefer und tiefer, bis unter den Mund, damit auch seine Schreie verdeckt werden. – Auch das, denkt er, wird dann zu seiner Zukunft gehören: die Wut und der Hass, die Unmöglichkeit (der Unwille?), noch irgendetwas hinzunehmen und hinunterzuschlucken, sich hinwegzuducken, sich zu arrangieren. Auch das ist Zukunft: Rückkehr ins Faustrecht, Rückkehr in den Abgrund. Er geht zur Bank, auf der der Mann eben noch gesessen hat, setzt sich, spürt in seinem Rücken die noch warmen Holzbretter und schließt die Augen. Gedanken verstreichen und verstreichen. Dazwischen liegen Sekunden und Jahre, er könnte es nicht sagen. Als er die Augen wieder öffnet, fällt sein Blick auf seine Beine: Er trägt in Kniehöhe abgeschnittene Armeehosen, und seine frisch geputzten Schuhe glänzen im Laternenlicht. Er hat Kopfschmerzen. Er wagt es nicht, nach der Wollmütze zu greifen, die sie hervorrufen. Er hat Angst.