Supernova: deformierte Conclusio

17. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Und weil jedes Konglomerat brüchig zu sein hat: dem Ende sein Motto # 1 (auch: Weil niemand erblasst oder Erblast sein will): it’s better to burn out than to fade away. (Neil Young, Hey Hey, My My, Out Of The Blue, Into The Black bzw. Kurt Cobain, sucide note.) Und weil außerdem alles noch einmal zum Thema gemacht werden kann und muss: Deformation wird sichtbar erst durch das Näherrücken. Die Nahaufnahme ist nötig, der Zoom auf das Detail des Details, damit die voyeuristische Distanz durch den Sprung ins Obszöne überwunden werden kann. (DAS OBSZÖNE: Sichtbarer als das Sichtbare, das ist das Obszöne. Die Obszönität ist die absolute Nähe des erblickten Gegenstandes. Es gibt nichts Obszöneres als die Überdosis des Selben, als die absolute Evidenz des Selben in seiner Verdoppelung. – Jean Baudrillard, Die Szene und das Obszöne.) Er hat, wenn er diese Sätze liest, immer eine Szene aus Thomas Manns Zauber-, d.h. Hausberg im Kopf (die er im Moment nicht finden kann): nirgendwo sonst, denkt er, wird die Obszönität fotografischer Nähe deutlicher als hier. Hans Castorp (glaubt er) in einem Ärztezimmer, an der Wand hängt die fotografische Nahaufnahme eines Stücks Haut. Bis zum Kotzen detailliert beschreibt Mann dieses Stück Haut: die Farben, die Poren, die Härchen, den Talg etc. Und beschreibt damit, denkt er, die Häutung, die jeder Fotografie zugrundeliegt: obszöne Nähe und nahe Obszönität. Und beschreibt damit zugleich die Ambivalenz, die jeder Häutung zugrundeliegt. (HÄUTUNG: So bezeichnet die Häutung einerseits, in Folter und Tötung, die extremste Einschreibung von Macht. Andererseits wird sie als Allegorie für einen Akt der Befreiung oder der (gewaltsamen) Modifikation verstanden. Sie markiert sowohl Verlust des Selbst als auch dessen Gewinn. – Claudia Benthien, Haut.) – Nachschrift: Womöglich, denkt er, liegt hier der Grund für sein Schuldgefühl: Er hat die Wanderung der Schrift durch die Häutung der Fotografie ersetzt – die Hand(schrift) verraten. Nie zuvor hat er mit Fotografien oder anderen Hilfsmitteln gearbeitet: Gerade die Unschärfe der Erinnerung ist ihm Kristallisationspunkt der Fiktionalisierung (gewesen), d.h. sie mag es werden.

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Motto # 2 (ad. Erinnerungswermut bzw. Bitterkeit des Vergessens): Glücklich die Macher pessimistischer Systeme! Ich bin kein Pessimist, ich bin traurig. (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe.) Und weil außerdem alles noch einmal zum Thema gemacht werden kann und muss: Deformation ist eine Form der Devianz. Erst der Bruch mit der Symmetrie, erst der Defekt hebt die Norm auf und gibt einen Ausblick frei. Johannes Kepler z.B. hätte es ahnen können, weil er sich nicht nur mit Ellipsen, sondern auch mit Schneekristallen beschäftigt und erkannt hat, dass jeder Schneekristall sechsstrahlig ist und die sechs Strahlen wiederum völlig identisch sind. Dreht man einen Schneekristall um sechzig Grad, ändert sich sein Aussehen nicht. Soweit die Norm und ihr Gesetz. Die Wirklichkeit aber liegt jenseits der gesetzlichen Normbegierden, da kaum ein Schneekristall perfekt auskristallisiert ist. Schneekristalle sind invalid, und nur ihre Invalidität, das sogenannte Defizitäre, erlaubt jedem einzelnen Strahl Singularität. Übertragen, denkt er, bedeutet das: Vermenschlicht wird der Mensch durch die Kratzer und Blessuren. Erst das Wrack ist Mensch, und nur am (erloschenen?) Fixstern: Lumpenproletariat (als Konglomerat) wird evident, was verborgen bleiben soll: Leben als Rissquetschwunde. – Nachschrift: Er nimmt sich vor, Definitionen fortan mit Deformationen zu durchsetzen, denn die Deformation ist das, was die Definition davor bewahrt, definit zu werden – der abgeworfene Eidechsenschwanz und die Regeneration. Die Deformation hält die Definition offen für Bedeutung.

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Und weil außerdem alles noch einmal zum Thema gemacht werden kann und muss (ZIEL: die ganze Scheiße noch einmal an-, fertig- und niedererzählen – Werner Schwab, Faust :: Mein Brustkorb : Mein Helm.), muss alles immer zu und immer wieder wiederholt, d.h. gecovert werden, bis das Original von sovielen Bearbeitungsschichten überlagert, und durchlöchert und deformiert ist, dass es kein Original mehr gibt. (Strikt selbstidentische Fraktale, bis nur noch Paradoxien zurückbleiben: Menger-Schwamm, d.h. Körper ohne Volumen, aber mir unendlich großer Oberfläche. Devianz durch unendliche Redundanz.) Regel XIII: Du zerstörst den Ursprung, du deformierst das Original, du wirst Cover. (COVER: Die dringlichste Aufgabe des Interpreten ist es, das Vorgegebene so restlos dem eigenen Vortrag anzuverwandeln, daß es quasi in einer eigenen Interpretation aufgehoben und als Vorgegebenes vergessen gemacht wird. – Johannes Ullmaier, Destruktive Cover-Versionen.) Er sucht nach der Probe aufs Exempel und findet: Die Deformation, die Zerstörung, die ihm am nächsten liegt, ist die Selbstzerstörung, d.h.: Selbstcover & you hijack yourself. (Supplement Regel XIII.) – [Anführungszeichen, d.h. Wasserturm LSF auf:] Eine Frau trägt (und trägt schwer) mit sich ein Gesicht voll Gesicht. Sie tauscht ein – quid pro quo (recte: do ut des) – ihr schwarzes Haar gegen das blonde des Mannes, der ihr am nächsten sitzt. Und sie trägt nackt, d.h. Nacktheit als Kleidung, die sich in dem neben ihr auf der Bank stehenden, mit Stanniolpapier umwickelten Globus spiegelt, bis auf weiteres. Im Flachbildschirm zu ihren Füßen: Testbild Ich. [: Anführungszeichen, d.h. Wasserturm HBF geschlossen. Verfasser unbekannt.] Das gecoverte Ich, denkt er, im Mittelpunkt des Suchtdreiecks: In- und Umkreis, Klimax und Antiklimax, Start und Ziel. (ZIEL: ich werde es schaffen, Sie werden sehen, ich verspreche es Ihnen. – Werner Schwab, Antiklimax.) – Nachschrift als Vorschrift als Uroboros als retrospektives, verdoppeltes Motto # 3 (und weil er außerdem und immer noch falsch ist): FALSCH: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. (Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Asyl für Obdachlose): ASYL: Mitten in der Fremde. Sie ist unsere neue Heimat. Ihre Mitte ist überall. Akzeptiert man die Fremde als Heimat, ist man überall im Zentrum. Das ist die Rest-Utopie der Stadtnomaden. (Hans-Jürgen Heinrichs, Inmitten der Fremde): UTOPIE (à la und/oder wider Canetti): Tod? Das ist ein veralteter Begriff. Es gibt dort keinen Tod, wo es keine Individuen gibt. Bei uns stirbt niemand. (Satnisław Lem, Sterntagbücher.) Stern-blog closed, white dwarf.