“O so verzeiht, wenn in engem Raum / Ein krummer Zug für Millionen stehen soll”

12. 6. 2016 // // Kategorie Randnotizen 2016

Vielleicht ist das Schönste an der Europa-Trilogie, die wir nach “The Civil Wars” (2014) und “The Dark Ages” (2015) nun mit “Empire” abschliessen, die ersten Wochen: ein einziges Kennenlernen, Zuhören, Nachfragen, Nachlesen. Im Fokus von vier, fünf Schauspieler-Biographien entsteht ein Tableau unserer Zeit – und darüber hinaus eine Sammlung von Theatermomenten, von Filmen, von allem, was “in dieser Welt und jenseits von ihr ist”, wie mein Grossvater Dino Larese vor ca. 30 Jahren in einem Brief schrieb, den er mir in ein Ferienlager schickte (in das morgen meine eigene Tochter aufbricht).

Hätte ich jemals “Der Blick des Odysseus” oder Mel Gibsons “Passion Christi” wieder geschaut, würde nicht unsere Darstellerin Maia Morgenstern darin mitspielen (als Mutter Christi)? Wüsste ich irgendetwas über die Regeln der filmischen Darstellung des Propheten Mohammed oder der ersten Kalifen, hätte nicht Rami Khalaf vor seiner Flucht in einer (natürlich von Saudi Arabien finanzierten) Serie zur mythischen Zeit der ersten vier Kalife mitgespielt? Was wüsste ich über die Zeit der Junta in Griechenland und das Heidelberg der 70er Jahre, über das ländliche Kurdistan und das Gefängnis von Palmyra (bevor der IS es sprengte), über das Rumänien Ceausescus und Stalins Lieblingsmusik? Und so sind die ersten Wochen eine Zeit des Lernens, des Lachens, des Weinens, der Entdeckungen.

Gestern zum Beispiel fuhr ich mit Akillas Karazissis nach Mainz – und auf dem zugleich tristen und irgendwie melancholisch stimmenden Campus vor der Stadt, errichtet in ehemaligen Nazi-Bauten, erinnerte er sich an seine Zeit in Heidelberg, Ende der 70er Jahre, ans damals herrschende “ethnologische Theater”, an die Blüte und das Ende des Eurokommunismus, und wir sprachen mit den Studenten (die eigentlich gekommen waren, sich die “Moskauer Prozess” anzuschauen) über die klassischen Dramen, die in “Empire” eine so grosse Rolle spielen (so wie Tschechow in “The Civil Wars” und Shakespeare in “The Dark Ages”): “Medea”, “Antigone”, “Elektra”, “Die Perser” – wie sie alle heissen.

Akillas hat sie alle gespielt, in Epidauros, dieser gewaltigen, den Schauspieler gleichsam umarmenden Freiluftbühne vor Athen. Zwei, drei Tage davor stritt er sich mit Maia, wer denn nun Schuld ist am Tod von Medeas Kindern: Jason oder Medea… Es ist unglaublich, was auf eine Bühne passt, was in eine Person passt, in ein Herz, einen Kopf, einen einzigen Menschen: die Schlacht um Griechenland oder um Aleppo (wo Pasolini seine “Medea” drehte), die Liebe und die Trauer um die Eltern (die fern weg, in Syrien oder Kurdistan sterben, ohne dass ihre Söhne, ohne dass Ramo oder Rami sie besuchen können). Die Hoffnungen und die Verzweiflungen dieser alten und dieser neuen – oder noch älteren – Europäer.

In fünfzehn Minuten beginnen die Proben. Hier ein Zitat aus dem Prolog von “Heinrich V”, an das ich (schon seit den “Civil Wars”) denken muss, wenn mir die Schauspieler von ihren Schlachten erzählen, auf der Bühne und im Leben:

“O verzeiht, wenn in engem Raum
Ein krummer Zug für Millionen stehen soll;
Ergänzt mit den Gedanken unsre Mängel,
Zerlegt in tausend Teile einen Mann
Und schaffet eingebild’te Heereskraft
Denn eurer Sinn muss unsere Kön’ge schmücken…”

Und mein Lieblingszitat aus den “Wörtern” von Sartre, das ich “Empire” voranstellen werde:

“Was bleibt, wenn ich das unmögliche Heil in die Requisitenkammer verbanne? Ein ganzer Mensch, gemacht aus dem Zeug aller Menschen, und der soviel wert ist wie sie alle und soviel wert wie jedermann.”