Du sollst dir kein Bildnis machen

9. 7. 2016 // // Kategorie Randnotizen 2016

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Stefan Bläske: Die Europa-Trilogie begann vor zwei Jahren im Westen Europas, mit Schauspielern aus Belgien und Frankreich, wanderte mit Schauspielern aus Deutschland, Bosnien, Serbien und Russland gen Osten und scheint die Grenzen von Europa nun in Richtung Süden zu überschreiten: Zwei der Schauspieler sind aus Syrien nach Europa gekommen. Wo sind die Grenzen, wo hört das europäische „Empire“ für Dich auf?

Milo Rau: Es ist ja kein Zufall, dass wir dieses Gespräch in Erbil im Nordirak führen. Hier in Kurdistan, aus dessen westlichem, also syrischem Teil der Schauspieler Ramo Ali kommt, zeigt sich zum einen natürlich die zerstörerische historische Realität Europas. Durch das sogenannte Sykes-Picot-Abkommen im Jahr 1916, mit dem Frankreich und Großbritannien im untergehenden Osmanischen Reich ihre Einflusssphären festschrieben, wurde beispielsweise das kurdische Problem erst geschaffen: Die Kurden wurden durch diese künstliche Grenze zur Minderheit in gleich vier Ländern, im Irak, in Syrien, Iran und in der Türkei. Die Familie des anderen syrischen Schauspielers, Rami Khalaf, wurde ebenfalls durch die Sykes-Picot-Linie getrennt. In den Biographien der älteren Schauspieler, des Griechen Akillas Karazissis und der Rumänin Maia Morgenstern, wiederholt sich dieses imperiale Moment Europas: Karazissis’ Familie kam durch die russische Revolution und die Vertreibung der Griechen aus Kleinasien nach dem Ersten Weltkrieg nach Griechenland, gewissermaßen also wegen der Reaktion des zerbrochenen Osmanischen Reichs auf den europäischen Imperialismus. Und Maia Morgensterns Familie, weißrussische Juden, wurde beim letzten großen europäisch-imperialen Experiment vor der EU, dem der Nazis, vertrieben und bis auf wenige Mitglieder ermordet.

Stefan Bläske: Das ist die historische Dimension europäischer Imperien. Wie verhält es sich aber mit der jüngeren Vergangenheit, der Aktualität in „Empire“?

Milo Rau: Die Europa-Trilogie negiert die äußere Zeit und orientiert sich an der inneren. Sie funktioniert gemäß dem Satz, den sich Tschechow als sein ästhetisches Credo auf einen Ring prägen wollte: „Nichts ist vergangen.“ Die Erinnerung, man weiß es, bezieht sich auf die existenzielle, die kulturelle Wahrheit, nicht die historische. Sie widersetzt sich der Zeit, in ihr bleibt das Vergangene gegenwärtig. Sogar die Zukunft – und das ist zweifellos die tragische Dimension des Ästhetischen – ist nichts anderes als ein Gestaltwandel des Gewesenen. Aber natürlich gibt es, von diesem dramaturgischen Grundprinzip abgesehen, in „Empire“ sehr konkrete Geschichten: Die syrischen Schauspieler sind beide geflohen – der Kurde Ramo nach einem Aufenthalt im Foltergefängnis von Palmyra, das zwischenzeitlich paradoxerweise vom IS befreit wurde. Und ihre Flucht hat die beiden wiederum konfrontiert mit der Wahrheit des europäischen Imperiums: seiner Exklusivität, seinem Grenzschutz, seinem Asylsystem, seiner repressiven Toleranz, schließlich seiner historischen Blindheit. Zum einen wollte ich nach den Geschichten innerer („The Civil Wars“) und inneuropäischer Kriege („The Dark Ages“) in „Empire“ Europa als strategischen und kulturellen Großraum untersuchen, den Kontinent von seinen Rändern, vom Nahen Osten, von Rumänien, von Griechenland und von seinen Ursprungserzählungen her erforschen. Zum anderen führen wir mit „Empire“ die Grundfragen der Trilogie fort: Was ist ein Krieg zwischen Bürgern, ein Bürgerkrieg? Was – konkret – ist Macht und was Ohnmacht? Warum glauben wir? Und wie schreibt sich die europäische Gewaltgeschichte ein in unsere Körper, Herzen und die Bilder unserer Zeit?

Stefan Bläske: Mit Akillas Karazissis ist auch ein griechischer Schauspieler im Team, das antike Griechenland gilt als Wiege der Demokratie, der Philosophie und des Theaters. Nicht nur geographisch also ist naheliegend, dass nach Tschechow im ersten und Shakespeare im zweiten Teil der Europa-Trilogie der letzte nun mit seinen Theaterreferenzen zurückgeht zu den antiken Griechen. Warum ausgerechnet Medea?

Milo Rau: Ich habe im Gymnasium sechs Jahre lang Altgriechisch studiert, und seit ich als Schlussarbeit „Die Troerinnen“ von Euripides ins Deutsche brachte, treibt mich die Frage nach dem Tragischen um: Was ist dieses dunkle Wissen, das nichts Neues gebiert, sondern den Albtraum vergangener Verbrechen entfaltet? Warum prüfen die Götter die Menschen? Auf „Medea“ gebracht hat mich, vor ebenfalls ungefähr 20 Jahren, die Filmadaption von Pasolini: ein teilweise fast ethnografischer, dann wieder – natürlich vor allem wegen der Callas als Medea – opernhafter und grenzwertig pathetischer, auch lächerlicher Film. Eine herrliche Mischung! Medea dreht sich – und diese Dramaturgie verschärft Pasolini, der große Sänger des Untergangs des alten, ja antiken Europas im Massenkonsum – um die Unvereinbarkeit von traditionellen Gemeinschaften und Zivilisation. Wie unterscheidet sich das zirkuläre, rituelle Wissen traditioneller Gemeinschaften vom historischen, gerichteten Wissen moderner Zivilisationen? Was ist der Unterschied zwischen Sentimentalität und Leiden, Ritual und Esoterik, Tausch und Konsum? Gleichzeitig stellt „Medea“ die Frage nach dem Ursprung der Schuld und damit der Gewaltgeschichte, und das ist eine Frage, die wir uns in den Proben immer wieder gestellt haben: Wo beginnt eigentlich die Tragödie? Mit Jasons Raubzug nach Kolchis, mit Medeas Mord an ihrem Bruder, mit dem Verlassenwerden Medeas oder schließlich mit dem Mord der eifersüchtigen Medea an ihren Kindern, den Euripides zum Mythos hinzuerfunden hat? Der Zufall wollte es, dass Akillas den Jason mehrfach gespielt hat – und sich, ein Stück weit, mit dessen Rationalität identifiziert. Maia hinwiederum hat die Medea in einer klassisch gewordenen Inszenierung verkörpert. Dazu kommen die anderen Themen: die hässliche, unsichere Rolle der Fremden, der Zugewanderten. Die essentielle Vernichtung des Tragischen in der aufgeklärten Patchwork-Familien-Idee Jasons, der kein Gefühl für den fundamentalen Schmerz Medeas und die Blindheit ihrer Begierde hat.

Stefan Bläske: Im ersten Teil der Trilogie, „The Civil Wars“, hattet ihr begonnen mit einer Recherche über Djihadisten und der Frage, warum junge Menschen aus Belgien in den Krieg nach Nahost ziehen. Davon ausgehend hat einer der Schauspieler erzählt, wie er von seinem Vater geschlagen wurde. Welchen Zusammenhang siehst Du zwischen häuslicher Gewalt und den Kriegen dieser Welt?

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Milo Rau: Die Trilogie war von Anfang an als große Symphonie der Stimmen geplant. Deshalb nehmen wir nun, quasi im Finalakkord, viele der Fragen von „The Civil Wars“ wieder auf: die nach den Bildern der Gewalt, der psychischen Dimension und der Erzählbarkeit von Geschichte. Was nun die vielleicht tragende metaphorische Linie der ganzen Trilogie angeht – also der Bewegung der Söhne aus „The Civil Wars“ vom heimischen Wohnzimmer nach Syrien und in den Nordirak und die parallele ästhetische Bewegung der Trilogie vom bürgerlichen Seelenporträt à la Tschechow über die Welt der Machtkämpfe Shakespeares zu den gewaltigen Exil-Tableaus der Antike – so führen wir diese mit „Empire“ zu Ende. Einerseits, indem wir vor Ort recherchieren, im syrisch-irakischen Grenzgebiet, und mit IS-Sympathisanten genauso sprechen wie mit ihren Opfern. Andererseits, indem wir das Thema der geprügelten Söhne, die Frage des Mitleids, des Extremismus, der Schuld und der möglichen Erlösung in den extremen Biographien der syrischen Darsteller, aber auch etwa in Maia Morgensterns Arbeitsbiographie (die in Mel Gibsons „Die Passsion Christi“ die Mutter Maria gespielt hat) weiterverfolgen, auch auf einer sehr realen Ebene: Ein Sinn unserer Reise in die irakischen und syrischen Kurdengebiete besteht ja darin, dass Ramo Ali seine Heimat und seine Mutter wiedersieht.

Was nun den „direkten“ Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und Krieg angeht, nach dem du fragst, so interessiert mich die sozialpsychologische Ebene daran weniger. Was mich interessiert, ist die Frage nach den unterirdischen Strömen der Geschichte, die die Menschheit jenseits ihres wachen Wissens durchqueren. Was bedeutet denn Exil? Was heißt es, wenn eine Tradition wirklich und nachhaltig unterbrochen wird? Wenn das „alte Europa“ verschwindet, so wie die antiken Hochkulturen verschwunden sind? Von Pasolini gibt es einen sehr späten Text, den er kurz vor seinem Tod geschrieben hat und in dem er den Untergang des Tragischen beklagt. Die Söhne und Töchter, so schreibt er mit Blick auf die 1968er-Generation, würden es ablehnen, die Schuld ihrer Eltern weiterzutragen. Das Individuum hat sich endgültig befreit, und zwar im Massenkonsum, im pubertären, bodenlosen Grinsen der hirnlosen „Zielgruppe“. Für mich ist, wenn ich eine Analyse wagen soll, auch der Salafismus eine solche negative Befreiung: ein Ablegen aller Vergangenheit in der Konversion. Eine Befreiung vom sozialen Ich in das, was Husserl das transzendentale Ego genannt hat – ein Hinüberwechseln in den radikalen, ahistorischen Solipsismus, in dem der Andere aufgehört hat zu existieren. Eine fundamentale Negativität.

Stefan Bläske: Könnte man sagen, dass diese Negativität in „Empire“ auf die Spitze getrieben wird? Eines der bestimmenden Themen der Trilogie ist ja das Anschauen des Leids.

Milo Rau: Ja, es führt eine direkte Linie von den durch koreanische Snuff-Movies ausgelösten Mordphantasien in „The Civil Wars“ zu Rami, der sich 12’000 Bilder von zu Tode Gefolterten ansieht, um seinen Bruder zu entdecken. Es gibt darin aber eine Evolution, denn in „Empire“ existiert, anders als in den beiden ersten Teilen der Trilogie, eine Ebene der gelingenden Transzendenz: Rami wird zwar die Erlösung verwehrt, da er seinen Bruder auf den Folter-Files nicht entdeckt. Gleichzeitig kündigt sich aber etwas wie ein Loslassen, eine Versöhnung an – übrigens auch beim Besuch Ramos am Grab seines Vaters während unserer Recherchereise. Diese Rückkehr „nach Hause“ gibt es, auf mehreren Ebenen, auch in Akillas’ Erzählung, und zwar in der Geste des Mitleids, als er sich auf dem Sterbebett gleichsam in seinen Vater verliebt oder als er mit einem Ensemble technisch gesehen erbärmlicher Schauspieler den Ajax spielt und auf einmal die Hingabe dieser griechischen Bauernschauspieler fast wie eine Erweckung erlebt. Und bei Maia Morgenstern schließlich, die in „Die Passion Christi“ als Mutter Maria die grausame Folterung und Kreuzigung ihres Sohnes ertragen muss und am Ende seinen geschundenen Körper küsst.

Stefan Bläske: Welchen Zusammenhang siehst Du zwischen Grausamkeit und Erlösung? Oder allgemeiner gefragt: Welche Rolle spielt der Glaube in „Empire“?

Milo Rau: Es gibt, ist eine Gesellschaft atheistisch geworden, keine Rückkehr in den Glauben – oder eben nur in der autistischen, unorganischen Weise wie im Salafismus. „Empire“ beschreibt diesen Übergang von „gläubigen“ Gesellschaften in Konsumgesellschaften noch einmal in aller Breite. Akillas wächst im konservativen Griechenland der Junta auf und erlebt die 70er Jahre in Deutschland als manisch-depressive Phase der Befreiung – nur um dann von seinem Griechentum eingeholt zu werden und seinen Frieden mit ihm zu schließen. Die Rumänin Maia distanziert sich von ihrer jüdischen Herkunft und wird erst bei einem Dreh in Auschwitz und schließlich anlässlich der Reaktionen auf „Die Passion Christi“ wieder mit ihrer Religion konfrontiert. Der extremste Übergang ereignet sich natürlich für Ramo, der aus dem traditionellen Westkurdistan in die süddeutsche Theaterszene gerät, in der man aus Spaß kurzzeitig zum Islam übertritt.

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Neben dieser soziologischen Perspektive gibt es in „Empire“ aber noch eine existenzielle: Glaube im Sinn des Neuen Testaments, also als Quelle des Mitleids. Und da ist der Blick der Mutter Maria auf ihren leidenden Sohn entscheidend: Jesus wird, wenn seine Mutter ihn anblickt, von seinem Gottsein ins Menschliche hinein erlöst. Er ist wieder das Kind, das leidet. Rami erzählt in einer Anekdote von einer umstrittenen saudischen TV-Serie über die ersten vier Kalifate: Mohammed, der Prophet, wird immer nur als Lichtschein gezeigt. Es ist verboten ihn anzuschauen, ihn gar darzustellen, geschweige denn zu berühren. Er bleibt unsichtbar, unberührbar. Der Blick der Mutter Maria auf den zerstörten Körper ihres Sohnes, der am Kreuz die erniedrigendste Todesart der Antike gestorben ist: Dies bezeichnet für mich den Sieg der irdischen Liebe über alle transzendentalen Einsamkeits-Abenteuer des Egos, von denen die Europa-Trilogie – und die Geschichte des Glaubens überhaupt – so voll ist.

Stefan Bläske: Womit wir zur zentralen Frage der Trilogie kommen: Wer der Schauspieler auf der Bühne eigentlich ist, aus welcher Perspektive er spricht, wenn er „von sich“ erzählt. Akillas etwa hat sehr klare Vorstellungen von der Rolle eines Schauspielers und der Unmöglichkeit, „jemand anderes“ zu sein. Existenziell formuliert sich die Identitätsfrage bei den beiden Syrern: Rami musste sich als Rumäne ausgeben und Ramo als Palästinenser, um die Türsteher und Zerberusse des europäischen Imperiums zu überlisten. Wenn Ramo die Verhöre in Assads Gefängnis als eine Art Psychotherapie beschreibt, kommt noch eine fast masochistische Ebene hinzu – oder wenn er erzählt, wie er in Deutschland vor allem als der Flüchtling gecastet wird, der seine Geschichte abzuliefern hat.

Milo Rau: Da sind wir wieder beim „Du sollst dir kein Bildnis“ machen der Bibel, aber auch bei der seltsamen Tatsache, in einer absurden und tragischen Welt zu leben, ohne den Beistand Gottes. Wie aber entzieht man sich dem passiven Erzähltwerden durch die Geschichte, wie wird man mit dieser ganzen grässlichen Wirklichkeit vom Holocaust bis zum Syrischen Bürgerkrieg fertig, ohne zu einem der dümmlich grinsenden Konsumenten aus Pasolinis Text zu werden? Obwohl ich in der Europa-Trilogie und damit auch in „Empire“ ein eher pessimistisches Menschenbild vertrete und sämtliche Kollektivbegriffe bis hinunter zur Familie als gewaltverseucht, pervers oder als idiotische Missverständnisse beschrieben habe, gibt es doch eine Art Lichtblick am Ende des Tunnels: Das ist dieser andere, der einem zuhört. Das ist der Zuschauer, der, um ein schönes Wort aus Roland Barthes’ „Tod des Autors“ zu nehmen, den Schauspieler in seiner tragischen Blindheit vor sich zappeln sieht – und ihm interessiert, vielleicht sogar voller Sympathie zuhört. Mehr an Erlösung kann man auf dieser Welt nicht kriegen.

Das Gespräch wurde am 6. Juli 2016 im irakischen Erbil geführt, anlässlich einer Reise in Ramo Alis Heimatstadt Qamishli (Nordsyrien) und an die Peschmerga-Front gegen den IS bei Sindschar (Nordirak) für das Theaterprojekt “Empire”. Die Bilder zeigen den Regisseur bei Dreharbeiten in der zerstörten Stadt Sindschar, auf einem Aussenposten der Peschmerga im Sindschar-Gebirge und bei der Besichtigung von vom IS erbeutetem Kriegsgerät. Bilder: Stefan Bläske.