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Konglomerat

4. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Der Hort, den er für sich, d.h. für die Kapseln gefunden hat, ist ein Glasbehälter, ein Quader mit abgerundeten Ecken. Bislang, wenn er richtig gezählt hat, sind es 522 Kapseln. Müll, weiter nichts. Ungewaschen und deformiert. (Die zusammengetretenen Kapseln haben die Form von Mündern, und wenn er sie lange genug betrachtet, kann er sie flüstern hören: ein Konglomerat aus Stimmen …) Er sammelt Müll, obwohl er weiß, dass es eigentlich unmöglich ist – Müll zu sammeln, in der Art, wie er es tut, ästhetisch. Das Müllsammeln ist ein rein akkumulierendes und ökonomisches, sein Ziel ist die Auslöschung der Sammelobjekte. (AUSLÖSCHUNG: Akkumuliert wird auch das Unbrauchbare, Störende, Schädliche; und der Zweck dieser Übung ist, es zu vernichten: hinterher muß es weg sein. (…) An der Müllbeseitigung wird ein Zug sichtbar, der für menschliches Wirtschaften insgesamt charakteristisch ist: das Verschwindenlassen. Aufs Ganze unserer Geschichte und Vorgeschichte gesehen, betreiben wir eine Ökonomie der Vernichtung. – Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch.) Der Sammler widersetzt sich der Auslöschung, der Sammler ist Fetischist: Er entzieht die Dinge dem Warenkreislauf und immobilisiert sie im Privaten. (UNVERÄUSSERLICH: Fetische und Sammlungsobjekte sind im Augenblick, wo sie Teil einer Sammlung oder Objekt einer Obsession werden, der Waren- wie Gabenzirkulation entzogen. Sie werden eifersüchtig behütet und bewacht. – Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur.) Der Sammler (als Fetischist) gelangt zu einem Gebrauch der Dinge, der kein Verbrauch ist. (Cf. ibid.) Das Ding des Sammlers verzehrt sich nicht und wird nicht verzehrt: Phönix und Kopfgeburt und Dauerhäutung. Das Ding (als Fetisch) beharrt – auch dann wenn es eigentlich Müll ist und von anderen zum Chor aus Flüstern zertreten wird.

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Und Müll wird getrennt – nach seiner materiellen Beschaffenheit, d.h. nach seiner substanziellen Herkunft, darum hat Müll nur noch Herkunft und keine Zukunft. Dagegen der Müll, denkt er, der illegal und querbeet deponiert wird, behält einen Ausblick auf Zukunft, weil in ihm noch die Schönheit widerscheint. Nur als Konglomerat verharrt Müll in seinem wilden Denken: Gleichzeitigkeit der widersprüchlichen Materialien, Nischen des Diversen und verwirrende Ästhetik der Unschärferelation. Müllkonglomerate sind der abgestoßene Eidechsenschwanz, verrückt, verwegen, verworfen. Das vollkommene und verkommene Rhizom. (RHIZOM: Ein Rhizom verbindet unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichen Kämpfen. Es gibt weder eine Sprache an sich noch eine Universalität der Sprache, sondern einen Wettstreit von Dialekten, Mundarten, Jargons und Fachsprachen. – Gilles Deleuze/Félix Guattari – Tausend Plateaus.) Die Schönheit scheint wider – und ihr Schatten: die Traurigkeit. Eine seltsame, verwirrende Melancholie geht von den Konglomeraten aus, als wäre nur die Kehrseite in der Lage, die Wahrheit des Verfalls einzugestehen. (NATURA MORTA: Die tragende kulturelle Stimmung ist die Melancholie als Schwebezustand des Umgangs mit Verlusterfahrungen. Durch In-Bezug-Setzung der gegenständlichen mit menschlichen Lebensläufen, quasi am Interface zwischen humaner und dinglicher Biographie, entsteht bei der Beschau der Abfälle eine schwermütig gefärbte, reflexive Grundstimmung. – Sonja Windmüller, Die Kehrseite der Dinge.) Frau Welt, die Reinigungskraft, setzt sich ihm auf den Schoß: Wo ihr Rücken sein sollte, ist nur Verfall, wo ein Rückgrat sein sollte, ist nur … Kälte. Der Müll als Konglomerat, denkt er, ist die ewige Mahnung, ein immer mehr mit und in sich verschmelzendes memento-mori.

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(Bruch im Textkonglomerat, weil Konglomerate brüchig sind.) Außerdem (und warum auch immer): Beim Wort Konglomerat hat er auch das Wort Spiel (theoriefrei) im Kopf. Vielleicht weil Konglomerat wie ein Brettspiel klingt. So wie Topinambur nur der Name für eine Landschaft sein kann. Oder vielleicht weil: Er erinnert sich an eine Sammlung von Spielen, vornehmlich von Brettspielen. Die Bretter und Figuren und Spielchips und Würfel befinden sich in einem Plastikkoffer, in dem er außerdem (und warum auch immer) Süßigkeiten hortet. Einmal sind es Schokoladerippen und -tafeln, die er unverpackt darin versteckt und über Monate vergisst. Die Schokolade ist geschmolzen und wieder geronnen – sie verbindet die Figuren und Spielchips und Würfel zu einem bunten Konglomerat. Oder vielleicht, weil sein Zugang ein falscher war: Die Gruppen haben keinen größten gemeinsamen Teiler: Die Gruppenzusammenstellung, die Beschaffenheit des Konglomerats, unterliegt dem puren Zufall. Sie sind keine peer-groups, sie sind nur der Einsatz im Würfelspiel der Götter. (SPIEL: Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit. – Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren.) Und für das Spiel, das sie selbst spielen und spielen müssen, hat niemand die Regeln aufgestellt, d.h. die Regeln ändern sich ständig, weil ihr Spiel (in allem Ernst) die Ränder des Spielfelds hin zur Wirklichkeit überschritten hat. Nur noch der Einsatz hat Bestand: Es geht immer um alles, als Einsatz bleibt zuletzt nur noch das nackte Leben. (NACKT: Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet. – Giorgio Agamben, Homo sacer.) Sie sind gefangen in der Permanenz des existenziellen All-in.

 

Dreifaltigkeit als assoziativer Selbstversuch

30. 9. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Vor mir auf dem Tisch liegen drei rote Kartons. Ich öffne den ersten und trinke die ersten drei Fläschchen. Weil, es ist nämlich so: Ich mag die Drei, geometrisch, klanglich, in Flaschenform. Auch farblich: Die Seite, auf der ich randnotiere, war mir von Anfang an (und noch ohne jeden Inhalt) sympathisch, weil ich die Farbtrias Schwarz-Weiß-Rot mag. Es sind die Grundfarben der Moderne: der politischen (schwarzes Swastika im weißen Kreis des roten Rechtecks) wie der ästhetischen (schwarze Quadrate, weiße Dreiecke, rote Kreise). Die Moderne denkt schwarz-weiß-rot. (Dass ich selbst die Fotografien in diese Dreiheit eingegliedert habe, war keine Anbiederung, sondern unumgänglich. Denke ich.) Ich mag die Drei bis zum manieristischen Exzess. Bei der Verwendung z.B. von Adjektiven. (Bevorzugt: anaphorisch, katachretisch, paradox.) Oder z.B. wenn ich Beispiele nenne (drei) oder z.B. bei Aufzählungen (dann bis: einszweidrei.) Woran liegt das? Was gefällt mir daran? Woher die Zwanghaftigkeit? (Dreimal zu fragen.) Ich will jetzt nicht wieder (zum, wenn ich mich richtig erinnere, dritten Mal*) den französischen Psychoanalytiker bemühen. Obwohl der da sagen würde: Erst der Dritte, der hinzutritt in die Glückdyade mit dem Imaginären, ermöglicht dir das Symbolische, nicht? Erst der Dritte führt dich in die Sprache ein, ja? Erst der Dritte macht dich überhaupt erst möglich, verstehst du? Aber nein, der hinzutretende Jacques soll verworfen werden (ab jetzt), und irgendwann einmal, wenn ihm danach ist, mag er wiederkehren, halluzinatorisch, bramarbasierend und sehr französisch.

*Hier irre ich natürlich: Tatsächlich handelt es sich um die vierte Bezugnahme auf J.L. Aber die Vier passt in keinen Zusammenhang. (Anm. E.R.)

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Fläschchen vier bis sechs, d.h. zurück in die Dyade, in der sich dennoch kein imaginärer Eudämonismus einstellen will. Die Zwei suggeriert viel zu bedenkenlos die perfekte Ergänzung: Es ist das fatale und fatal-vermeintliche Glück des Symbolon, der aristophanischen Hermaphroditen, die endlich die verlustig gegangene Hälfte wiederfinden und zum Einen verschmelzen, lückenlos, nahtlos, uninteressant. Vom Begehren zusammengeführt und wiedervereint, erfüllen sie die Grundvoraussetzung des Sammelns: a) Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, b) die zusammengeführten Teile sind endlich. Dennoch: Die Sammlung beginnt erst bei der Drei. (DREI*: Nicht immer machen mehr als zwei, niemals aber weniger als drei eine Sammlung aus. – Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch.) Die Sammlung, der Klang, die Faltigkeit (was immer das sein mag …) Das Zweite tritt zum Ersten hinzu. Wie: das Deviante zur Norm. Wie: Das Grün zum Rot. Wie: Die Ambivalenz zum Eindeutigen, d.h. Kain zu Abel. Aber erst das Dritte öffnet. Erst das Dritte macht möglich: dass es Sammeln gibt (und dass Sammeln sich unendlich ausdehnen kann), dass es Polyvalenz gibt (und dass der Agon der Ambivalenz zur Revolte des Vieldeutigen wird), dass die Linie zwischen zwei Punkten zur Dreiecksfläche zwischen drei Punkten wird (und dass es möglich ist, Sucht zu kartieren.)

*Oder, raunt der andere, d.h. zweite Jacques, doch die Zwei, d.h. die Drei als Zwei, in der Zweiseitigkeit des Supplements. (ZWEI: Das Supplement fügt sich hinzu, es ist Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert, die Überfülle der Präsenz. Es kumuliert und akkumuliert die Präsenz. (…) Aber das Supplement supplementiert. Er gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle von; wenn es auffüllt, dann so, wie wenn man eine Leere füllt. – Jacques Derrida, Grammatologie.)

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Denn der Zweifel bleibt. Und er bleibt in der etymologischen Zwei begründet: Denn Zweifel, sagt z.B. ein Duden, bedeutet ursprünglich und eigentlich: Ungewissheit bei zweifacher Möglichkeit. Die Drei tritt als Ungewissheit also zur Zwei der Möglichkeiten hinzu (und ersetzt sie). D.h. erst die Drei schafft das Ungleichgewicht: Treffen zwei aufeinander, gibt es eine und eine Meinung. Treffen dagegen drei aufeinander gibt es nicht eine und eine und eine Meinung, sondern eine Meinung und eine plus eine Meinung. (Und zur Rettung der Drei: Dialektik …) D.h. dass Drei eine unspektakulär-normale Primzahl ist, während Zwei die deviante, weil einzige gerade Primzahl ist. (Und zur Rettung der Drei: Drei ist die Primzahl Nummer Zwei, d.h. eben nach der Zwei.) Oder z.B. Einsamkeit (EINSAMKEIT: Alles versinkt im Super-Max der Individuation und in der Isolationshaft der Autoreflexion. – E.R., all the world’s a cage.): Wenn es ein Innen gibt, gibt es auch ein Außen. (Und zur Rettung der Drei: Ein Gitter, das die beiden trennt.) D.h.: Wenn ich mir einen roten Karton mit drei Fläschchen kaufe und sie trinke, dann gehe ich eine Zweiheit ein: sowohl mit dem Karton, als auch mit jedem einzelnen Fläschchen. (Und zur Rettung der Drei: Natürlich, als Zieldrittes, auch mit meinem Rausch.) – D.h. ich öffne den letzten Karton. (Und zur Rettung der Drei: Es ist der Dritte.) Und trinke die letzten Fläschchen (d.h. drei). Und erkenne: Die Wahrheit ist summarisch, also die Fünf. (Cf. Das Gesetz der 5*.) Oder: Die Wahrheit liegt zwischen Zwei und Drei. (In Zahlen: 23*.) Und überlege: Wie kann ich das mit meinem autistisch verbrämten Lebensgrundsatzsolipsismus in Ein-Klang bringen? Und entscheide: Indem ich von mir in der dritten Person spreche. Und verdopple: die dritte Person zu zwei, indem ich (eins) er (zwei) und sie (drei) schreibe …

*: 2 + 3 = 5 (…) 5 + 18 = 23 (…) 1 + 7 = 8 = 32 (…) FÜNFEN. SEX. HIER IST WEISHEIT. (…) 4 x 3 x 2 x 1 Vierundzwanzig 5 x 4 x 3 x 2 x 1 Einhundertzwanzig. Siehst du? (Robert Shea, Robert A. Wilson – Illuminatus! Das Auge in der Pyramide.)

 

all the world’s a cage (Gefangenentrilemma)

27. 9. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Circulus vitiosus (?): Oder das Stadtgut und die Eidechsen und die Menschen verfangen sich in den Zäunen und den Netzen und den Gittern. Es gibt so viele Gitter, denkt er, in dieser und in den anderen Städten. Also muss es Vieles geben, das so wertvoll und so schön ist, dass man es wegsperren muss. Oder so böse und so schlecht. – Manche Gitter sind eindeutig. Beim Gang entlang der Milchstraße kommt er auch am Gefängnis vorbei: Von einem bestimmten Standpunkt aus, wenn er den Kopf hebt, blickt er in ein unentwirrbares, endloses Knäuel aus Nato-Draht. Kein Vampir wäre in der Lage, das Knäuel zu lösen, denkt er, aber (ein Blick in die Vergangenheit der Zukunft) der ganzen Welt könnte man damit eine Dornenkrone aufsetzen, entlang der Territorialmarkierungen und noch weiter. (Gefängnis: Gefängnis, d.h. Welt.) Andere Gitter verbergen sich. Wie die am Bahnhof, an den Bänken in der Halle und den Bahnsteigen. Es sind nicht viele Stäbe nötig, nur einszweidrei pro Bank. Senkrechte Stäbe, d.h. Armlehnen, die die Bank der Länge nach segmentieren. Sie genügen, um denjenigen, die keine gültige Fahrkarte haben, den Schlaf unmöglich zu machen und in die -losigkeit zu stoßen. (Gefängnis: Schlafentzug.) Die feinmaschigsten Gitter trägt er im Kopf. Sie schließen seine Denkmöglichkeiten ein: Schon im Rastern der Wahrnehmung sperren sie ihn vom Wahrgenommenen ab. Und in ihm selbst entfremdet er es bis zur Unkenntlichkeit. Alles versinkt im Super-Max der Individuation und in der Isolationshaft der Autoreflexion. (Gefängnis: Selbstwahrnehmung, Teufelskreislauf Ich.)

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Regressus ad infinitum (!): Der Barkeeper B ist, wie viele Barkeeper, ein Zyniker. An der Theke sitzen zwei Trinker, links außen der Trinker T, rechts außen der Trinker T‘. (Von seinem Platz in der Bar sieht er das Triplett TBT‘.) B, der bemerkt, dass T und T‘ bereits so betrunken sind, dass er ihnen alles erzählen kann, geht zu T und erzählt ihm Folgendes: Du und der andere, ihr habt gestern die Zeche geprellt. Jeder von euch schuldet mir Geld für die Zeche, zusammen, sagen wir, zehn Magenbitter. Ich kann es euch nicht beweisen, aber ich gebe euch beiden die Wahl: Wenn du es abstreitest und schweigst und er ebenso, kann ich nichts tun, aber ich schlage euch heute je zwei Magenbitter auf die Rechnung. Wenn du und er die Zechprelle gesteht, will ich mich milde zeigen und euch beiden nur je vier Magenbitter verrechnen. Bleibt noch eine dritte Möglichkeit: Du verleugnest die Zechprelle und der andere gesteht sie ein. Dann muss er alle zehn Magenbitter bezahlen, und du kommst gratis weg. Umgekehrt, wenn du allein gestehst … du verstehst mich. Also, überlege es dir: Wenn du leugnest, zahlst du entweder zwei oder zehn Magenbitter, wenn du gestehst, entweder vier oder gar keinen. B tippt T mit dem Zeigefinger auf die Stirn. Denk nach. Dann er geht B zu T‘ und erzählt ihm dieselbe Geschichten. T und T‘ sehen kurz nacheinander, wagen es aber nicht, sich auszutauschen, beide sind mit ihrer Entscheidung allein. – Er sitzt weiter an seinem Tisch, beobachtet die Szene: TBT‘. Die beiden sitzen fest und regregieren in der Unmöglichkeit der Entscheidung. Es gäbe noch einen Ausweg, denkt er dann, der alle überraschen würde: Er selbst, stella ex machina, könnte alle Rechnungen begleichen und alle weiteren Lokalrunden werfen. Er könnte reinen Tisch machen – mit sich und der Welt. Oder er könnte um seine eigene Rechnung bitten. Er denkt darüber nach und regregiert in der Unmöglichkeit der Entscheidung.

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Abbruch des Verfahrens (?!): Während in den Körpern jedes Einzelnen der Gruppe beständig die Ruhelosigkeit aufbricht, sitzt er immer – ob Minuten oder den ganzen Tag – am Rand seiner Bank, die Beine übereinander geschlagen, die Arme schlaff nach unten hängend. Nur sein Mund bewegt sich, und er selbst bewegt sich mit den Bewegungen seines Mundes. Er ist Pantomime, führt aber seine Gebärden nicht körperlich, sondern ausschließlich sprachlich aus. Er sitzt da und spricht sein Programm (klassisches Repertoire: Bananenschale etc.). –: Ich will fort von hier. Ich mache mich auf den Weg und schon nach wenigen Schritten stoße ich gegen einen Zaun. Ich bin perplex. Mit meinen Händen taste ich den Zaun ab, es gibt kein Loch darin, keinen Durchschlupf, durch den ich entkommen könnte. Ich versuche, am Zaun nach oben zu klettern, rutsche aber schon nach weniger Metern ab und falle zurück auf den Boden. Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung, zaghaft erst, dann schöpfe ich Hoffnung. Mein Schritt beschleunigt sich, bis ich gegen einen Zaun stoße. Ich taste ihn ab, kein Durchschlupf, der Versuch, ihn zu erklettern, scheitert. Ich drehe mich um neunzig Grad, gehe in die dritte mögliche Richtung und stoße gegen einen Zaun ohne Durchschlupf und Klettermöglichkeit. Ich drehe mich um hundertachtzig Grad, gehe in die vierte mögliche Richtung und stoße gegen einen Zaun ohne Durchschlupf und Klettermöglichkeit. Noch gebe ich nicht auf, noch gibt es eine letzte Möglichkeit, die ich nutzen kann. Dennoch zögere ich, mein Mut sinkt. Langsam stellt sich die Gewissheit ein, dass auch die fünfte Himmelsrichtung von einem Zaun begrenzt sein wird. Schon nach wenigen Schritten werde ich dagegen stoßen und keinen Durchschlupf finden. Endlich ringe ich mich durch. Ich mache einen Schritt und noch einen und noch einen und noch einen

 

Stadtgut-Nischen

24. 9. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Er atmet auf. Weil die Hitze und die von ihr hervorgerufene Starre endlich abfallen. Weil der Herbst sich ankündigt und der Wind ihm das Gehen erleichtert. (Das Atmen, das Leben, die Traurigkeit.) Gerne folgt er den Dingen – Plastiktüten, Verpackungen, Zeitungsseiten –, die der Wind vor ihm herbläst. Stadtgut, das umher- und irgendwann angespült wird – an einem der zahllosen vertikalen Strände urbaner Meere. An den Mauern und Häusern am Ende von Sackgassen, an den Plakatwänden, an den Bahndämmen und Lärmschutzwänden. Oder das Stadtgut wird in Nischen geblasen, in kaum erkennbare Zwischenräume, Spalten und Klüfte. Dort ist es windstill, ohne Gezeitenspiel: nur noch Ebbe und Ruhe. (RUHE: Ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe und schlafen können. – Georg Büchner, Lenz.) Wohin, fragt er sich, weht der Wind diejenigen, deren Kappen fadenscheinig geworden sind? Gibt es Horte, in denen sie sich (unbeobachtet) sammeln können? Refugien, in denen sie sich verstecken wie die Dämonen in den Nischen der Gotik? – Denkt er an die Karte in seinem Kopf, dann ist die wichtigste Nische die Geschwindigkeit. Eine paradoxe Nische: erst die Unruhe der Umgebung macht ihnen Ruhe möglich, erst in der beschleunigten Hektik des Alltags können sie unsichtbar werden. Es sind Räume des Übergangs und Orte des Transits, an deren Rändern das Meer sie anspült: Durchzugsstraßen, Bahnhöfe, Parks, die andere allenfalls durchqueren (schnell), Passagen mit leerstehenden Geschäften. Im Fahrtwind der anderen können sie atmen und ein wenig schlafen.

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In einem der Parks liegt jeden Morgen unter einer Bank derselbe Mann. Er hat einen Mumienschlafsack, sein Rucksack ist ihm der Polster. Drei Plastiksäcke stellt er in seinem Rücken auf: Um das Nichteinsehbare, das Verletzlichste, um seine Rückgrat-Seele zu beschützen. Die Plastiksäcke sind mitunter fast leer. – Seitdem er ihn das erste Mal gesehen hat, fragt er sich, warum er unter der Bank schläft und nicht auf ihr. Er selbst hat oft auf Parkbänken geschlafen, nach Besäufnissen und noch öfter nach Konzerten. Die Bänke waren unbequem und sind über die Jahre noch unbequemer geworden. Dennoch wäre er nie auf die Idee gekommen, sich unter die Bank zu legen. Naturgemäß, denkt er, hat er nie lange auf Bänken geschlafen. Die aufeinanderfolgenden Nächte waren vorweg gezählt (einzzweidrei), nie waren Bänke eine voraussichtliche Dauerzukunft für ihn. Naturgemäß hat er also wieder einmal keine Ahnung und so beginnt er zu spintisieren: unter einer Bank zu liegen, d.h. ein Dach zu haben – ein Dach zu haben, d.h. ein Obdach zu haben – ein Obdach zu haben, d.h. privat zu sein – privat zu sein, d.h. unsichtbar zu sein – unsichtbar zu sein, d.h. sich eine wirkliche Nische auszubilden – sich eine wirkliche Nische auszubilden, d.h. dass man heimgehen kann, wenn es soweit ist. (WENNESSOWEITIST: Der Verlust des Ortes ist wie der Verlust eines Anderen, des letzten Anderen, des Phantoms, das einen empfängt, wenn man in seine einsame Wohnung zurückkehrt. – Marc Augé, Tagebuch eines Obdachlosen.) Mag auch das Dach dieses Heimes undicht sein, und mag auch der Regen zwischen den Brettern dieses Daches hindurchfallen. Der Mann, denkt er, kann sich einrollen – wie eine Katze in ihre Katzenobdachlosigkeit. Und er nimmt sich vor, fortan nach Konzerten unter der Bank zu schlafen.

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Nischen sind auch die Welt der Eidechsen. Eidechsen, denkt er, sind die Nischenbewohner schlechthin, weil sie keinen Unterschied sehen zwischen Horizontale und Vertikale: Ihnen ist alles ein Raum, das Kippen der Dimensionen permanent. Kopfüber wird ihnen selbst noch die Erde zum Obdach, und die Nische wird niemals eng, sie bleibt zum Verrücktwerden schön. (VERRÜCKTWERDEN: Once I had a little game / I liked to crawl back in my brain / I think you know the game I mean / I mean the game called ‘Go insane’. – Jim Morrison, Celebration Of The Lizard.) Er würde, hätte er den Mut dazu, eine Eidechsenphilosophie gründen (so wie Diogenes seine Hundephilosophie gegründet hat) und Regeln aufstellen (so wie Diogenes es nie gemacht hätte). Regel I: You do not talk about it. Regel II: You DO NOT talk about it. Regel III: Du bist ein Reptil, d.h. du wirst amphibisch: aus griech. amphí (auf beiden Seiten) und bíos (Leben), d.h. du wirst ambivalent bis in die abgeworfene Schwanzspitze hinein, d.h.: du bist das doppelte Leben: Den Körper (in Teilen, entlang der Sollbruchstellen) wirfst du von dir, um ihn wachsen zu lassen. Regel IV: Du wirst, wenn es so weit ist, zur Schlange und wirfst auch noch die Beine ab. Du spaltest deine Zunge, du spaltest deine Seele: You go insane. Regel V: Du häutest dich beständig. Jede Hornhaut ist Lüge. Regel VI: Vom Hundekönig borgst du dir die Tonne: Die Nische, die du überall hintragen kannst. Regel VII: Du gehst auf allen Vieren. Du gehst die Wände hoch. Du gehst dir selbst aus der Sonne. Regel VIII: Du hast den Tierblick. Regel IX: Du hast alles hinter dir, d.h. du hast länger keine Herkunft mehr. Du gehst zurück in die Zukunft. (…) Regel XXIII: Du bildest Nischen im Denken. D.h.: Jede Regel ist hinfällig.