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Geplante Obsoleszenz: Da- und Dadasein

16. 9. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Vielleicht ist all das nur eine Ausrede für das Gehen. Für die Flucht im Kleinen, d.h. für die Flucht im Wissen um die Rückkehr. (Und sei es allein, um die Katze zu füttern, d.h. Selbstbeweis: noch nicht vor die Hunde gegangen.) ★ Er fragt sich, ob auch er bereits auffällig geworden ist. Ob es jemanden aufgefallen ist, dass er immer wieder kommt und sich immer wieder bückt, um nach etwas zu greifen, das er nicht fassen kann. (Mitunter wünscht er es sich: Beobachtet werden, ganz offensichtlich.) ★ Nicht nur das Gefäß der Schöpfung, auch die unzähligen kleinen Fläschchen der unzähligen kleinen Schöpfungen sind zerbrochen. Und brechen weiter. (ER-SCHÖPFUNG: 6. die ganze Welt, das Weltall, hat Ein Ziel, das Nichtsein und erreicht es durch kontinuierliche Schwächung seiner Kraftsumme; 7. jedes Individuum wird, durch Schwächung seiner Kraft, in seinem Entwicklungsgang bis zu dem Punkte gebracht, wo sein Streben nach Vernichtung erfüllt werden kann. – Philipp Mainländer, Philosophie der Erlösung.) ★ Fixer (d.h. Süchtler) und Alkoholiker (d.h. Penner), hat er gehört, gehen einander aus dem Weg: Es gibt die Parks dieser und die Parks jener. Die Bilder (d.h. die Fotos) aber, die er macht, weil die Bilder (d.h. die Wirklichkeiten) sich vor ihm auftun, beweisen das Gegenteil. ★ Oder: Einen Weg abbrechen, denkt er, so wie man einen Gedanken abbricht.

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Er schaut sich in einem Müllhäuschen (Ort der Wiederkehr: Fundgarantie) um. Er sieht eine angefüllte Ledertasche und nähert sich ihr. Und erstarrt, als eine Stimme Meine sagt. Er geht, ohne sich nach dem Mann zur Stimme umzusehen, davon. (Zuoberst in der Tasche ein Buch: Stichwort Literatur.) ★ Androgynes Schreiben, erinnert er sich, gelesen zu haben. Bei Virginia Woolf. Aber Virginia Woolf hat, so weit er weiß*, kein Tagebuch geführt und sicher keinen Blog geschrieben. ★ Einige Graffiti, denen er begegnet, rechnet er insgeheim der gefundenen Sprache zu. Gerilla. (Weil Gorilla dagegen ein allzu billiger Kalauer gewesen wäre.) Gentrifizierung ist Krieg gegen die Armen. (Weil es auf einem eben erst gebauten und mit Dämmplatten und Außenputz versehenen Haus steht.) Hier könnte ihr Graffito stehen. (Weil das nirgendwo steht, sondern ein metatextueller Kalauer dieses Textes ist.) Das Wasser ist zu nass. (Weil sich darüberhinaus kaum etwas Vernünftiges sagen lässt.) Gentrifizierung ist Krieg gegen die Armen. (Weil es außerdem auf der Wand eines aufgelassenen Discountermarktes steht.)

*Hier irrt er natürlich: Virginia Woolf war von 1915 bis zu ihrem Tod 1941 disziplinierte Tagebuchschreibern. Auf Deutsch wurden die Tagebücher in fünf Bänden (1990-2008) von Klaus Reichert herausgegeben. Blog hat sie allerdings tatsächlich keinen geschrieben. (Anm. C.D.)

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Diejenigen, die bereits (oder noch immer) morgens in den Parks sitzen und bereits (oder noch immer) morgens trinken, weinen (oft.) Verlorener Liebe nach (oder gewonnener Freiheit.) Sie sind jung und immer (öfter) sitzt jemand an ihrer Seite und nickt. Am Nachmittag dann beginnen die Beziehungsstreits, die Trunkenheit ist (am öftesten) ein Megaphon: Vier oder noch mehr Sprachen kann er miteinander streiten hören. ★ Ab welchem Punkt eines Spazierganges beginnt der Rückweg? ★ Warum sucht er – und warum suchen sie in den Flaschen nach einer Botschaft? Vielleicht liegt die Botschaft ja ganz offensichtlich da: als Oberfläche, als Etikett. ★ Mit Argwohn und Neid blickt er nach den Männern der Straßenreinigung und der Müllabfuhr: Wie viel umfangreicher muss ihr Wissen sein? Ihr Einblick in die Kehrseite, d.h. der Seite, die beiseite gekehrt wird? ★ Beim Anblick der Gruppe denkt er: Sie sind in einem existenziellen Warten gefangen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Am allerwenigsten durch die Ankunft von irgendjemandem und irgendetwas. (WARTEN: Godot was here. – Weißes Graffito auf einer blauen Skaterrampe in einem Park.) ★ Der Müll, der an den Straßen- und Wegrändern liegt, bietet wenig Abwechslung: Im Supermarkt mag er kaum mehr als einszweidrei Regale eingenommen haben. Und allein die Ameisen, die dazwischen wandern … ★ Menschen, denen er immer wieder begegnet und die dennoch nicht zur Szenerie gehören. (Noch, denkt er.) Die Frau, die ständig hin und her läuft und dabei älter wird. Oder der Mann mit Boxernase und Vokuhila, der aussieht wie ein Achtzigerjahreactionfilmschauspieler. – Noch denkt er, weil: Alle Figuren sind aus der Luft gegriffen. Die ihre realen Vorbilder geatmet haben. D.h.: Die Sollbruchstelle ist (und bleibt) das Ich.

 

Devianz oder Die Geschobenen

8. 9. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Immer wieder kommt er enttäuscht von seinen Gängen zurück. Entweder weil: a) er ausschließlich Konkurrenzmarken findet: Magenbitter anderer Firmen mit anderen Namen, anderen Etiketten und anderen Kappen. (Auch ihre Bitterkeit, denkt er, wird eine andere sein.) Er ist enttäuscht, weil die Fläschchen ohne Anspruch auf seine Aufmerksamkeit seine Aufmerksamkeit beanspruchen, und enttäuscht (auf sich), weil er ihnen die Aufmerksamkeit vorenthält. Oder weil b) er zwar Sterne findet, aber nichts an ihnen hervorsticht: Es sind nur die immer gleichen, einfachen Einzelfläschchen, die er schon so oft gefunden und fast ebenso oft fotografiert (aktuell: 258) hat. Viel zu selten sind die Tableaus der Seelenverwandtschaft oder die Zufallsarrangements würfelnder Götter. Eine Unzufriedenheit (a) und eine Unzufriedenheit (b), und er versucht, sie in einer Unzufriedenheitssynthese (c) aufzuheben: Seine Unzufriedenheit basiert auf Devianz. Einmal (a) auf ihrem Vorhandensein (ein Zuviel der Abweichung) und einmal (b) auf ihrem Fehlen (ein Zuviel des Gleichen, denn auch die permanente Redundanz erscheint ihm deviant). Das, wonach er sich sehnt, das, was ihn zufrieden machen würde, wäre: permutierende Devianz. Ein, wie Deleuze sagen würde, Deviant-Werden.

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Er geht durch ein Museum, und weil es ihm bekannt ist, steuert er sofort seine Lieblingsabteilung an: Glaube und Aberglaube. Er sieht (durch Glas) in eine Dingwelt der Abweichungen. Eine verstummte Alraune. Haarbilder: filigrane Bäume und andere floral-stilisierte Muster aus dem Haar von Verstorbenen. Heiligenbilder und -statuen, die vierzehn Nothelfer. (Gibt es einen Heiligen, der für Säufer zuständig ist? Einen, der sie schützt im Wahn des Delirium tremens? Katharina vielleicht, die bei Leiden der Zunge und Sprachschwierigkeiten hilft. Oder Dionysius, dem Helfer bei Kopfschmerzen und Seelenleiden. Oder Christophorus, zuletzt, gegen den unvorbereiteten Tod.) Eine mumifizierte Katze, nur noch Knochen und eine pergamentene Haut ohne Fell. Ein Bauopfer, liest er, um etwaige Dämonen zu verscheuchen. Votivgaben aus Metall und Wachs und Holz. Ein ganzer Zoo (manche der Metall-Tiere haben die aussichtslos verlorene Physiologie von Giacometti-Skulpturen) und ein Arsenal humansomatischer Partialobjekte. – Kurz: Du siehst, wohin du siehst, nur Devianz in den Vitrinen. Jedes Objekt außergewöhnlich, außeralltäglich und hinausgreifend – weit – über die Norm. Das Museum, wie jedes Museum und jeder Sammler, sammelt dingliche Devianz und präsentiert sie als Repräsentanten gesteigerter Kultur. Seltsam, denkt er, denn Menschen, deviante Menschen … Seltsam, da er weiß, dass sich in dem Gebäude, in dem heute das Museum untergebracht ist, von 1788 an fast hundert Jahre lang das Tollhaus von Graz befunden hat.

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Das genormte Ding ist es nicht wert, gesammelt zu werden. (Allenfalls in der reinen Menge. Cf. Standardbriefmarken, cf. Stoppel.) Erst das Andere der Dingvernunft, sein Widerschein, macht es begehrenswert, erst der individuelle Defekt, die Per- und In-Versionen des Einen. Dagegen, denkt er, bei Menschen: Das Verschiedene wird zum Ausgeschiedenen. Der deviante Mensch, der sich dem Gleichen entzieht und das Andere oder Besondere oder Unverständliche widerscheinen lässt, wird interniert: er wird nicht gesammelt, sondern gelagert, nicht bewundert, sondern angestarrt, nicht aufgehoben, sondern abgeschoben. Das Begehren des Ding-Sammlers, denkt er, ist das lacansche Begehren der Metonymie, der begehrenden Verschiebung (für) entlang der endlosen Kette, Signifikant für Signifikant, Wort für Wort und Ding für Ding. Während das Begehren der Menschen-Ausrangierer einer Negativ-Metonymie der Abschiebung (von-zu) unterliegt: Die Abweichung ist die Abweichung des Anderen. D.h. ewige Abschiebung von Signifikant zu Signifikant, von Tollhaus zu Tollhaus, von Gefängnis zu Gefängnis, von Rand zu Rand und zuletzt: von Land zu Land. – Er schüttelt den Kopf und erinnert sich, dass mit Barbara sogar sie, die Totengräber, eine Nothelferin haben. Er verlässt das Museum, biegt ab und biegt ab und biegt ab, bis er die Orientierung verloren hat. Er setzt sich neben einen Mistkübel, in dem ein Fläschchen mit abweichendem Etikett liegt. Er fotografiert es, er ist zufrieden.

 

Kurzschluss: Seelenverwandtschaft

3. 9. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Sein erster Gedanke: Niemand wird ihm glauben, dass nicht er selbst die Fläschchen und Kapseln so arrangiert hat, dass er sie tatsächlich so vorgefunden hat, dass ein anderer das Tableau inszeniert hat. Es ist zu schön, denkt er, und es ist egal: Bei vielen Fotos wird niemand ihm glauben, dass er sie so vorgefunden hat, obwohl es die einzige Vorgabe war, die er sich gestellt hat: Bei den Fotos darf er nicht eingreifen und er hat nicht eingegriffen. (Auch wenn er es selbst manchmal nicht glauben kann.) Die Fotos sollen abbilden, die Texte sollen fingieren.

Sein zweiter Gedanke: Er hat einen Seelenverwandten, der ebenso an die Schönheit der Sterne glaubt wie er. Obwohl: Er wird ihn niemals kennenlernen. Und obwohl: Wahrscheinlich waren es nur Kinder vom nahegelegenen Spielplatz, die an anderen Tagen Zapfen oder Kieselsteine sammeln und in ihrem Hort arrangieren. (Er weiß nicht, ob er froh oder bestürzt sein soll, dass er immer noch Kinderspiele spielt.) Dennoch: Virginia Woolf verortet den Sitz der Seele im Rückgrat. Die einzelnen Wirbel, denkt er, sind die Verwandten und ein gemeinsames Mark verbindet sie. Kein Hut, keine Kopfbedeckung fällt ihm ein, die ihrer gemeinsamen Seele Unsichtbarkeit gewähren könnte.

Sein dritter Gedanke: Der Messergriff, natürlich, zieht seinen Blick auf sich und irritiert ihn. Mit welchem Hintergedanken ist er in das Tableau eingebaut worden? Worauf soll es verweisen? Was könnte er bedeuten? Nichts, sagt er sich und denkt dabei an das Rasiermesser von W. v. Ockham, weil Nichts die einfachste und darum logischste Erklärung ist. Noch einfacher wäre nur das Messer von G. C. Lichtenberg, aber dann wäre wirklich Nichts, und er müsste über nichts nachdenken.

 

Sammeln, Sucht: Alpenglühen

26. 8. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Sein Blick beim Gehen ist weiter auf den Boden gerichtet. Selten dass er ihn hebt, und auch dann nur, um sich kurz zu orientieren (und nicht vor ein Auto zu laufen.) Tunnelblick, denkt er, die vollständige Fokussierung auf ein Objekt. Der Blick des Suchenden (= Sammelnden) ist der Blick des Süchtigen: Allein der Stoff zählt, alles andere fällt aus den Wahrnehmungszusammenhängen. Schon immer, denkt er, war er von Sucht fasziniert, und er stellt sich Sucht als ein gleichseitiges Dreieck vor. Drei nominale Punkte (die drei roten Käppchen einer Schachtel) definieren es: Obsession – Isolation – Autodestruktion. Und definieren auch das Dreieck des Sammlers. Der Suchtsammler ist besessen von den Objekten seines Sammelns bzw. wird er selbst von den Objekten besessen. Der Suchtsammler vereinsamt in seinem Tun: Das Sammeln, nimmt er es ernst, isoliert ihn von allen anderen. (Jeder geht und sammelt und trinkt für sich allein.) Der Suchtsammler vernichtet sich im Sammeln: Der Sammlung wird alles untergeordnet, bis nichts zurückbleibt als die Sammlung selbst, keine Ressourcen, kein Raum, kein Ausweg. (Zielgerichteter Potlatch: Totale Verausgabung für das Eine.) Und er? Manchmal, wenn er im Gehen versucht, den Blick springen zu lassen – im Ping-Pong zwischen den Suchtobjekten und ihren Kontexten –, überkommen ihn Schwindel und Teufelskreislaufprobleme. Fast so als hätte er Gras geraucht.

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Wer nichts mehr hat, sammelt alles. (Hat er jemanden sagen hören.) Der Mann schiebt einen Einkaufswagen vor sich her, bis an den Rand hin angefüllt. An den Gittern hängen ausgebeulte Taschen und Plastiksäcke, am Unterbau des Einkaufwagens steht ein Bananenkarton. Vor den Mistkübeln bleibt er stehen, durchsucht sie, nimmt mit, was ihm brauchbar erscheint. Aus der Entfernung (und, wenn man sich dem Mann nähert, auch aus der Nähe) sieht der Einkaufswagen aus wie ein mobiler, langsam durch die Welt kriechender Müllberg. Hort ohne geografische Koordinaten: reine Bewegung, d.h. besinnungslose Hortung. In den Pausen, während der er sich auf Bänken niederlässt, trinkt er. Vormittags zögerlich, gegen Abend hin immer härter. Der Mann, denkt er, lebt im Spannungsfeld einer auf die Spitze getriebenen Ambivalenz. (AMBIVALENZ: Some dance to remember, some dance to forget. – Eagles, Hotel California.) Denn die Mittelpunkte des Sucht- vs. Sammler-Dreiecks sind antithetisch definiert: In- und umkreist das Sammeln die Erinnerung, in- und umkreist die Sucht das Vergessen. Wer nichts mehr, d.h. alles vergessen hat, sammelt alles. – Der Mann steht auf, schiebt seinen Einkaufswagen weiter, entsorgt im Vorbeigehen die Flasche im Mülleimer: Post, womöglich, für jemanden, der im Sammeln das Vergessen sucht.

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Wenn er versucht, sich den Begriff Vergessen als Landschaft vorzustellen, sieht er ausgedehnte, zu keinem Abschluss kommende Flächen vor sich. Ebenen, Steppen, Eis- und Sandwüsten. Ohne Bewuchs, ohne Verwerfungen. Oder ein Meer. Ein horizontloser Ozean ohne Ausblick auf Festland, nicht einmal in Form insularer Intarsien. – Erinnerung dagegen nimmt in seinem Kopf unweigerlich die Form eines Berges an. Keines Hausberges freilich: Der Hausberg ist die Inversion eines Berges, umgestülptes, hochaufragendes Vergessen. Hymnisch besungen – Land der Hausberge –, ist er der Vergessens-Hausberg Österreichs. (Ein Tafelberg aus Sandsteinschichten und – geologisch eher unmöglich, literarisch aber ok – umhüllt von einer Rosenquarzschicht. Der Form und dem Gehabe demnach dem bekannten Punschkrapferl nicht unähnlich. Cf. R. Menasse.) Kein Hausberg also, ein richtiger Berg: Zusammengesetzt aus Erinnerungsschichten, komprimiert durch tektonische Verschiebungen. Bewachsen bis zu einer Grenze, die nicht die Baumgrenze wäre, und überzogen von einem Labyrinth aus Wegen, an deren Kreuzungspunkten keine Wegweiser aus der Verwirrung führen. Ein richtiger Berg also, denn Gehen – auf Bergwegen und jedes Gehen überhaupt – ist Erinnerungsarbeit und Vergessensverweigerung. (D.h. Um- und Neuschrift: Jeder Gang, jeder einzelne Schritt überschreibt die vorgängige Erzählung.) Und der Berg, nicht zuletzt, denkt er, ist Müllberg, der sich in nichts von einem Berg aus Sammel(=Erinnerungs)objekten unterscheidet. Weil nur Müll sich beharrlich ins Gedächtnis ruft.

Nachbild:

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