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STOLZ UND (REPRESSIVE) TOLERANZ

1. 10. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Wer sich – wie ich – noch erinnern kann, mit wie viel Schaum vorm Mund die etablierte Politik und die einflussreichsten Medien damals die »Rebellen von 68« dämonisierten, dem bleibt ein Rest von Staunen über die Transformation des »Bösen« in etwas »Wertvolles«. Natürlich hat diese Transformation die Anpassung der (meisten) Akteure ins Bestehende zur Voraussetzung. Aber seltsam ist dennoch, wie der Hass selbst auf das harmlose Unangepasste (das Verprügeln von langhaarigen Pflastermalern durch aufgebrachten Recht-und-Ordnung-Mob zum Beispiel) dem Vergessen preisgegeben wird. Oder wie die Hatz auf Schwule oder Kiffer – veranstaltet von Polizei und Bürgern mit gesundem Menschenverstand – Amokläufen glich.
Das alles – wie auch die Schüsse auf Rudi Dutschke, die nicht erklärbar sind ohne die Botschaft des Springer-Verlags, der die Subversion an die Wand gestellt sehen wollte – ist aufgelöst in so ein stolzes und wohliges Gefühl, damals sei der erste Schritt gemacht worden, Deutschland vom Muff zu befreien, vom Post-Faschismus in die Moderne zu führen.
Es gibt natürlich verbitterte alte CDUler, die waren brav in der Jungen Union als Joschka Fischer Molotow-Cocktails warf. Die drehten schon am Rad als Fischer Außenminister wurde und sie Hinterbänkler blieben.
Und es gibt ebenso verbitterte alte Linke, die schreiben Bücher in großer Zahl – natürlich mit autobiografischem Schwerpunkt – in denen »68« zur Brutstätte von Terror und RAF stilisiert wird. Aber auch diese hauptberuflichen Bußgänger spielen nur eine Nebenrolle.
DIE MEHRHEIT WILL STOLZ SEIN.
In Frankfurt gibt es einen Theodor W. Adorno Platz, mit Denkmal, eingeweiht von der CDU-Bürgermeisterin, die über den Mann, der Jahrzehnte über die Einflusslosigkeit kritischen Denkens reflektiert hat, sagte, er habe »die Identität unserer Stadt maßgeblich mitgestaltet.«
In Berlin gibt es eine Rudi-Dutschke-Straße, ganz unabhängig von der Frage, ob und wie tief er in Gewalt verstrickt war.
Wenn mal wieder abgestimmt wird, wer der wichtigste Deutsche war oder ist, dann sind Karl Marx, Rosa Luxemburg und sogar Erich Mühsam immer dabei. Wie zur Bebilderung von Marcuses Begriff der »REPRESSIVEN TOLERANZ« werden sie eingeklemmt zwischen Reaktionären und Konformisten. Helmut Schmidt steht als Sieger ohnehin fest.
Man findet Formeln für sie, die von aller Schärfe ihres Denkens befreit sind. Marx wollte dann, dass es den Arbeitern besser gehe; Erich Mühsam war ein lustiger, weltfremder, liebenswerter Anarchist.
Die Förderung von Ignoranz gegenüber ihrem Denken benutzt die Methode, es »menscheln« zu lassen.
Zu Adornos 100. Geburtstag berichtete das Feuilleton von seinem Lieblingsfrühstück (»ein großes Omelette mit Toast«), seinen Fernseh-Vorlieben (er sah recht gern »Daktari«), seinem Verhältnis zur Mutter, der Herkunft seines Spitznamens (»Teddy«), seiner Kleidung (konventionell), seinen Umgangsformen und natürlich seinen sexuellen Abenteuern und Vorlieben, die man aus seinen Tagebüchern ausgrub. Ein großes Rätsel war dem Feuilleton, wie ein so kleiner und pummeliger Mann ohne prächtigen Haarwuchs so viel Schlag bei Frauen haben konnte.
Ansonsten war er: »Umstritten«.

Die Sprache gehört den Menschen nicht

20. 9. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Ich hatte ja versprochen, einige Beiträge für unser Programmheft, die mir besonders gut gefallen, hier vorzustellen.

Damit erspare ich mir auch, – berechnend wie ich in – die Stimmungsberichte von unseren Proben. Dazu nur soviel: Sie sind intensiv. Und das heißt eben, an einem Tag schläft man mit dem Gedanken ein, einen ganz großen Schritt getan zu haben; am nächsten liegt man länger wach, weil einem dünkt, man trete ganz schön auf der Stelle. Ohne diese seltsame Angst, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden oder das Publikum zu langweilen, ist so eine Aufführung wohl nicht zu haben. Zumal ja keiner hier »den Hut aufhat«.

BARBARA KIRCHNER, von der man alles lesen sollte, was einen Verlag gefunden hat, besonders aber »Dämmermännerung. Neuer Antifeminismus, alte Leier« und den mit Dietmar Dath gemeinsam verfassten, wunderbar überfordernden »Implex«, gehört zu den Autorinnen, denen jede Ausgewogenheit fremd ist.
Entsprechend schroff reflektiert sie zwei Zitate aus dem »Eindimensionalen Menschen«, die andeuten, wie wenig doch die Sprache den Sprechenden gehört:

»Um zu leben, hängen die Menschen von Chefs, Politikern, Stellungen und Nachbarn ab, die sie dazu verhalten, das zu sagen und meinen, was sie sagen und meinen; die gesellschaftliche Notwendigkeit zwingt sie dazu … Indem sie ihre Sprache sprechen, sprechen die Menschen auch die Sprache
ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter … Was sie meinen, kann nicht für bare Münze genommen werden – nicht, weil sie lügen, sondern weil das Universum des Denkens und der Praxis, in dem sie leben, ein Universum manipulierter Widersprüche ist.«

»Aber in Wirklichkeit verstehen wir einander nur durch ganze Bereiche des Missverständnisses und Widerspruchs hindurch. Das wirkliche Universum der Alltagssprache ist das des Kampfes ums Dasein.«

Die Menschen, fand Marcuse, reden wie die Werbung. Man versteht den Satz heute kaum noch,
denn die Menschen reden inzwischen ärmer als die Werbung, weil die Werbung wenigstens noch etwas sagt, etwas will (Zeug verkaufen nämlich), das sich auf etwas bezieht, das der Erfahrung, der Bestätigung, der Widerlegung zugänglich ist. Was sich aber in Internet-Foren oder Amazon-Kundenkritiken äußert, das ist die Sprache auf der ziellosen und überflüssigen Suche nach einer Herrschaft, der sie nach dem Mund reden, der sie schmeicheln kann – ein Gestotter, ein Gewürge, ein Haspeln, ein Brei, der sich auf nichts mehr bezieht, was man irgendwie überprüfen könnte. Die Leute dürfen sich jetzt äußern, weil sie es nicht mehr können. Die Widersprüche sind nicht mehr im Leben, sie sind nur noch zu finden im Versuch, sich zu diesem Leben irgendetwas zu denken, denn ein vom Denken, also vom Unterscheiden, Vergleichen, Urteilen, weiter entferntes Leben gab es noch nie. Alles ist nur noch, wie es ist. Keine
Gegenkraft. Kein Widerwort, und selbst die Zustimmung ist zum Spottbild des auf den Mund gefallenen Idioten verstümmelt: »Gefällt mir.«

Der eindimensionale Mensch wird 50

11. 9. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Eine Koproduktion mit dem steirischen Herbst Festival Graz und dem Polittbüro Hamburg. Mit freundlicher Unterstützung vom Musicboard Berlin. Wir danken Peter Marcuse und Peter-Erwin Jansen für die Überlassung der Verwertungsrechte der von uns verwendeten Textauszüge aus dem Werk von Herbert Marcuse »Der eindimensionale Mensch«. Die Nutzungsrechte beziehen sich auf die von P.-E. Jansen herausgegebene Neuauflage des Werkes aus dem zu Klampen Verlag, Springe.

Programmheft kommt voran

26. 8. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Das ausführliche Gespräch, mit Hermann L. Gremliza und Dietmar Dath, für unser Programmheft ist inzwischen geführt. Ich bin Überzeugt, da sind einige kluge Gedanken über Marcuse ausgetauscht.
Und auch die Reflexionen, von einem guten Dutzend geschätzter Autoren, über zentrale Zitate Marcuses, sind eingetrudelt.
Einige will ich hier nach und nach vorstellen. Beginnen soll Thomas Blum, der so genau hinzuschauen vermag – und dem so eine witzige und traurige Bebilderung gelungen ist:

»Da steht ein Mann. Er steht an der Bushaltestelle, die nur mit allergrößter Mühe als solche erkennbar ist. Auf allen drei Wänden des Buswartehäuschens sind, hinter bruchsicherem Glas, riesige bunte Hochglanzbilder mit halbnackten Frauen zu sehen, deren halb geschlossene Augenlider und halb offen stehende Münder den Eindruck erwecken, die Frauen ernährten sich von Benzodiazepinen und es habe überdies jemand etwas mit ihren Gehirnen gemacht. ›Perfect Beauty‹ lauten die Worte neben der Großaufnahme eines Gesichts.
Der wartende Mann wirft einen zärtlichen Blick auf sein Pappbrötchen, einen kompakten kleinen hellbraunen Klumpen, den er mit zwei Fingern aus dem kleinen, bunten Hochglanzpappkarton angelt, den er in der Hand hält. Die Worte ›Ich liebe es‹ sind auf dem Karton zu lesen. Es kann als ausgeschlossen gelten, dass ein Mensch des 19.Jahrhunderts den Klumpen als Nahrungsmittel identifiziert hätte. Auch auf dem T-Shirt, das der Mann trägt, prangt ein Schriftzug in Versalien: ›DEUTSCHLAND‹. Auf der Plastiktüte, die er neben sich abgestellt hat, steht: ›Ich bin doch nicht blöd.‹
Auf einem großen, bunten Plakat auf der anderen Straßenseite ist die Frau abgebildet, die oft abends im Fernsehen gezeigt wird und dort Sätze spricht, die an der Stelle, wo andere Sätze Spurenelemente eines Gedankens haben, Motivationstrainerjargon und Sprachwatte haben. Die größte aller Banalitäten wird von ihr in einem Ton verkündet, als handele es sich dabei um eine jahrtausendelang vor der Allgemeinheit verborgene und nun von ihr entschlüsselte Weltweisheit. ›Was jeder Einzelne von uns im Kleinen erreicht, das prägt unser Land im Ganzen‹, sagt sie. Oder: ›Alles, was noch nicht gewesen ist, ist Zukunft, wenn es nicht gerade jetzt ist.‹ Auf dem Plakat steht geschrieben: ›Kanzlerin für Deutschland‹. Auf einem Plakat daneben liest man: ›Nichts ist unmöglich.‹
Die Menschen, die durch den hinter der Bushaltestelle gelegenen neonerleuchteten Supermarkt trotten, wissen, dass nichts unmöglich ist. Und sie wissen, was Glück ist: ein kaltes Bier, ein großes Schnitzel, eines von diesen Fernsehgeräten, deren Bildschirm die halbe Wohnzimmerwand einnimmt. Kurz: Dinge, die man in sich hineintun kann. Die bunt sind. Und laut. Nein, da braucht niemand zu kommen und die Menschen zu belehren.
Zwei junge Männer, die aus dem Discounter kommen, sagen beide etwas. ›Super! Boah, ist das geil! So geil!‹, schreit der eine von ihnen, der an seinem bis obenhin gefüllten Einkaufswagen zwei noch in Cellophan verpackte Deutschlandfahnen angebracht hat, die er anscheinend soeben erstanden hat. ›Voll der Hammer! Der totale Wahnsinn, Alter!‹, antwortet der andere, während er wie in Trance auf sein Smartphone sieht. Man weiß nicht, wovon die beiden Männer reden. Oder ob sie mit dem jeweils anderen reden. Aber das spielt auch keine Rolle. Die gesamte Szene ist schön, so, wie sie ist. Denn sie ist wahr. Da gibt es keinen Zweifel.«