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Alpaufzug in München

7. 6. 2009 // // Kategorie Randnotizen 2009

Letzten Mittwochabend hörte ich mitten in München einen gigantischen Alpaufzug: Das Läuten von hunderten von Kuhglocken in trägem Schritt. Ich fühlte mich sofort im Graubünden, wo ich als Kind jeden Frühling eine Stunde lang zuschaute, wie eine Kuh nach der andern den Berg hinauf stieg.

Aber als ich von der Residenzstrasse näher an den Odeonplatz kam, sah ich, dass die Kuhglocken von Menschen getragen wurden. Vorne hatte eine menschliche Leitkuh ein Mikrophon in der Hand und sprach Verschwörerisches über Agrarsubventionen. Wenn ich richtig verstand, warnte er die bayerischen Landesregierung davor, dass sich die Bauern bald keine Kühe mehr leisten könnten.

Spätestens im englischen Garten verschwand der politische Aufruf wieder in der Geräuschkulisse der Kuhglocken, und ich konnte mich wieder ungestört über die gewaltige Versammlung von Geräuschemachern freuen. 

In der Zukunft wären auch denkbar: 

– Fussgängerumzüge mit Autohupen, die eine geschäftige Strasse simulieren. 

– Riesige Gruppen von Menschen, die durch rhythmisches Klatschen eine Hooliganmenge spielen.

– Ein Umzug mit Kokosnusschalen, die klappernd eine Kavallerie andeuten.

– Ein Büro voller Menschen, die geschäftig Telefongespräche in die Luft führen, ohne dass jemand auf der andern Seite zuhört.

Um nur einige Beispiele zu nennen. 

Die Arbeitslosigkeit der Zukunft könnte so neue Tätigkeitsfelder schaffen. 

Der steirische Herbst sollte einen live-Hörspiel-Wettbewerb für bedrohte Geräuschgruppen ausschreiben.

Analphabeten schreiben

18. 5. 2009 // // Kategorie Randnotizen 2009

Das General Post Office ist eines der grössten Gebäude in Kalkutta. In seiner kolonialen Architektur arbeiten über 1000 Beamten.

 

indische post

Um auch die zahlreichen Analphabeten der Stadt anzusprechen, stehen vor dem Postamt eine Reihe von Schreibtischen, an denen man Briefe diktieren kann.

ind schreiber

Wer seiner Familie in der fernen Heimat in Bihar oder Uttar Pradesh mitteilen will, wie es ihm geht, kann sich hier einen Schreiber auf Zeit nehmen, der für ein paar Rupien Wünsche, Bestellungen oder Beschimpfungen notiert. Dann steckt er sie in einen Umschlag und adressiert ihn nach Bihar oder Uttar Pradesh. Und nun machen sich die Worte auf eine lange Reise über die Schreibtische des General Post Office und die Gleise des indischen Eisenbahnnetzes, bis sie nach Tagen und Wochen am anderen Ende Indiens ankommen. Hoffentlich.


Ich bin zwar nicht Analphabet, aber fast.

Vor ein paar Jahren wurde ein gutes Dutzend meiner Tagebücher aus einem Frankfurter Theaterlagerraum in den Sperrmüll entsorgt. – Man hatte die Kiste mit den Büchern für ein altes Bühnenbild von mir gehalten.

Seither misstraue ich Papier und notiere wenig. Mein Alltag besteht aus ungeschriebenen Worten: Telefonieren, befragen, zuschauen, wiederholen, erinnern… Vor der ersten Probe zu einem neuen Stück wächst ein Archiv aus Videobändern, Audio-Files und Gedanken. Ich treffe Insektenforscher, Sodaten, Videogameprogrammierer oder aegyptische Beamten und spreche mit ihnen über Theater. In allen möglichen Sprachen. Was dabei entsteht, ist ein Pool von Ideen, aber wenig Text. Eher ein Repertoire von Lebensgeschichten und Argumenten. Oral History?


Jetzt soll ich für den steirischen Herbst schreiben.

Hätte ich einen indischen Briefeschreiber vor meinem Kruezberger Postamt, würde ich ihm schnell ein paar Seiten Randnotitzen diktieren. Dort sitzt aber keiner. Und am Schalter wird man erst bedient, wenn die rote Leuchtdiode mit der Nummer auf einem Thermopapier übereinstimmt.


Also werde ich selber schreiben, und meine Wünsche und Beschimpfungen auf diese Webseite versenden, die bestimmt mindestens so komplex verschachtelt ist, wie das General Post Office in Kalkutta. Nur dass an den Schreibtischen dieser Webseite niemand mehr sitzt und Datenpakete nicht – wie in Kalkutta üblich – mit Nadel und Faden zusammengenäht werden.

ind paket

 

Mal sehen, ob davon etwas in Uttar Pradesh ankommt…