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Wahrheit oder Leben

30. 9. 2009 // // Kategorie Randnotizen 2009

das ist es wohl, worum es geht : »Jener flüchtige Moment Wahrheit, nach dem ihr zu fragen vergessen habt.« (Joseph Conrad), wenn Paul Nizon über seinen »inwendigen Walser« schreibt, über den jungen Menschen, der poetisch einfach ergiebiger ist, Walser, der ihm ein »Mantel« war, als er literarisch zu schreiben anfing. Der Künstler, so Nizon, hat es schwer und dies hat auch mit dem Erwachsenwerden, mit dem ins-Leben-Hineintreten, zu tun. Sein Leben gewinnen, verlieren, sein Leben leben. (Nizon spricht von seiner ersten Pariser Zeit, da war er ungefähr fünfzig.) Eine Berliner Freundin erzählt von den Gesprächen mit den Frauen für ein Theaterprojekt in Madrid. Sie sagt, der Freund einer der Frauen sitze gerade in Abschiebehaft. »Der sitzt in Abschiebehaft und wir wollen Theater machen.« Sein Leben erreichen, es reichen lassen, sein Leben leben. Natürlich, Nizon ist ein Sprachmensch, kein »Inhalteverteiler«, ihm geht es um die sprachgewordene, an sich gewordene Wirklichkeit. Seine Schwierigkeiten bei seinem Buch Zorn verliefen ungefähr in die Richtung : es gelang ihm lange nicht, den existenziellen Hinter-/Untergrund dieses Textes zufassen (das Zimmer, das Leben, die Liebe). Er wollte – so sein Vorsatz – sich in diesem Buch erstmals mit dem Erzählen auseinandersetzen, nein, es würde keine lineare Handlung, konventionell erzählt, werden, aber dennoch löste wohl auch dieser Entschluß eine Krise aus, die sich bis zur Schreibblockade auswuchs. Er schrieb sich aber warm in der Zeit, er hielt sich in Übung, er schrieb sein Zimmer voll – das Schachtelzimmer (die Zettelschachtel, aber bei ihm sind alles Zettel – auf den Bildern davon zumindest – ordentlich auf Wäscheleinen aufgehängt) – und es wurde dann daraus das Jahr der Liebe. Immer Ich-Bezogenheit (das ist viel besser als Autobiographie) und Fahndung nach dem, was das Leben ausmacht. So viel Ähnlichkeit irritiert schon eher.
Übersetzt ins eigene Schreiben und das von KollegInnen, zwanzig Jahre später kann das auch heißen : jetzt sind nicht mehr die eigenen Eltern so wichtig; du hast eine eigene »Firma« – wie es David Wagner in seinem Kinderbuch bei Droschl formuliert – und es ist ja so, dass sich der Schwerpunkt längst verlagert hat, aber im Schreiben hänge ich immer wieder diesem inwendigen Walser nach, diesem Wesen (das ich ja so nie war), das lebenseinfältig oder -unfähig nur dem Schreiben hinterher ist, sich als Kind sieht, sehen muss, um dieses Konstrukt aufrecht zu erhalten. Die ergiebigste Zeit ist nicht die des Kindseins (die auch, aber vielleicht habe ich mich noch gar nicht tief darauf eingelassen), sondern die des jugendlichen Leichtsinns, die Zeit der großen Gefühle undsoweiter.) Die Jugend hat sich endlos ausgedehnt, wie sehr das Wagner’sche Firma auf das, wie diese Ewig-Jugendlichen ihr Familienleben organisieren, evaluieren, outsourcen (und dann eben wieder nicht – und auch das nervt), zutrifft, ist schon sehr enervierend.
Das Leben ist schon das Leben. Ist der existenzielle Hinter-/Untergrund vorhanden – wie brüchig er sein mag, das macht ihn mitunter wohl aus –, dann können alle Fragen gestellt werden, selbstverständlich. Ob diese mit den Schwierigkeiten bei der Einreise nach Europa zu tun haben und den verbreiteten Klischees (die natürlich auf Hoffnung gründen) junger Einwanderer von einem Land (das ihre Zukunft ausmacht, die es zu erreichen gilt, damit sich die eigene Gegenwart fortsetzt, das Leben nämlich), oder mit den Auswirkungen prekären Alltags. Das Zimmer : jenes Verschwinden von Raum für immer größer werdende, heterogene Gruppen der Gesellschaft (also immer mehr Menschen); das Leben : Freundschaften, die immer gedauert haben und mit einemmal Vergangenheit sind, der Turnrucksack für den Kindergarten, ein neuer Weg zur U-Bahn, diese Sachen; die Liebe : die Liebe. Damit setzen wir uns doch immer auseinander, das setzt doch unser Leben zusammen, unsere Alltags-Wahrheit. Und : verlieren wir den Boden, müssen wir nach dem Grund fragen.

[ Zum Ausmessen meiner Schritte – das Zimmer, das Leben, die Liebe ]

Mehr Raum, anders

17. 9. 2009 // // Kategorie Randnotizen 2009

Sprach-Räume, Orte, Plätze, Stellen oder Winkel der Wahrnehmung (und in der Wahrnehmung) Vergewisserung – Verunsicherung – vielleicht Niederlage (einerseits, weil : Wahrnehmung nicht vollständig eingeordnet, gestapelt und die richtige Richtung gebracht werden kann, also vage bleibt, auch wenn sie dennoch massiv sein kann, jaja). Räume aus Sprache oder Wahrnehmung wollte ich ausleuchten, ausmessen mein eigenes (sprachliches) (perzeptuelles) Gehen, Vortasten, Voranschreiten.

Und dann habe ich : Räume ausgeschritten, so und so viele Meter lang und breit und hoch, über weiteren Raum, der zu schaffen ist, gestaunt. Gleich angefangen, sich mit diesen Räumen mich auseinandergesetzt, auf eine sehr physische Weise. (Die eine und weitere körperliche Grenzen meinerseits haben sich dabei natürlich auch aufgetan.) Aber zuerst. Langmut, wer hätte das gedacht. Ich habe geschätzte 200 Quadratmeter Wand verspachtelt (unser Bildhauer-Freund ein Vielfaches, aber das ist ja kein Bewerb, sondern die Ästhetisierung von Wohnraum mit vorhandenen Mitteln), Quadratzentimeter für Quadratzentimeter, Innenspachtel fein, Gips, Spachtelmasse, Fugenfein, je nachdem, was gerade verfügbar ist. Das geht so dahin, morgens schlüpfe ich in alte Sportsocken und eine Hose aus dem Jahre Schnee (das war noch in einer anderen Stadt – Jobperspektiven nach dem Studienende, Frühstücken im Schwarzsauer vor den anderen, längst schon war das besetzte Haus in den Eigentum der ehemaligen Besetzer übergegangen und die in ein Stadium der Bobohaftigkeit, als das Wort noch gar nicht erfunden war – vor und nach der Renovierung anderer Wohnungen, es waren doch über all die Jahre so viele) und ein Leiberl mit Farbflecken, was weiß ich woher, spachteln, spachteln, Radio Ö1, FM 4, Stille, Spachtelmasse neu anmischen, die drei Meter hohe Leiter hinauf, hinunter und schon ist eine Woche vergangen, vielleicht auch zwei.

Innerfamiliär dräuen die Kategorien »alt« und »neu« herauf, der Begriff »Zuhause« funktioniert noch, manchmal muss man aber schon dazusagen, in welches man jetzt fährt. Die ersten Unterschiede drängen sich in die Wahrnehmung, vielleicht habe ich auch nur darauf gewartet; es wird schwierig, sie politisch korrekt wiederzugeben, ich sage es so : die Internationalität der alten und neuen Umgebung ist eine sehr unterschiedliche, aber wenigstens ist sie (hier wie da) vorhanden. Südlich und bunt und »am meisten« – das hat uns gefallen, das haben wir verteidigt denen gegenüber, die zur Adressangabe wissend-abgeklärt erwiderten : ach, da hab ich auch einmal gewohnt … früher … Und früher heißt in dem Fall natürlich : als ich jünger war, keine Familie (Kinder, um die man sich naturgemäß in einer solchen Gegend sorgen muss) und weniger Geld hatte. Heißt logischerweise : sobald ich weg konnte, hat mich da nichts mehr gehalten. Eine Berliner Freundin ermunterte mich, dass ich die türkisch-stämmigen Nachbarsbuben, die selten die Schule besuchen und ähnlich wie ihre Väter kapo-artig unser Hauseck oder was auch immer bewachen, die Straße, die auf eine bestimmte Art (die sie kennen, die ich kenne, über die wir uns offensichtlich stumm geeinigt haben vor längerer Zeit) ihnen zu gehören scheint, abchecken, dass ich auf diese Burschen schon einen Einfluss ausüben würde können, es sei sogar meine Aufgabe, für sie eine positive Figur darzustellen usw. (Dieser Aufgabe konnte ich nicht nachkommen, wollte ich vielleicht auch nicht – wie es gehen hätte sollen, weiß ich auch heute eher nur ungefähr, aber wahrscheinlich ist dieses ungefähre Wissen Produkt meiner Bequemlichkeit.) Im letzten Jahr, kurz vor Weihnachten nahmen wir die Einladung eines Nachbarn an und fanden uns wieder in einem 1-A-Hobbykeller mit witzigem Wurzelwerk über der Vollholzbar, neben einem improvisierten Punschstand und vielen nackten Mädchen – an den Wänden. Eine junge Frau sagte auf meinen Konversationsversuch (den mein dreijähriger Sohn vorbereitet hatte, indem er ihr gefährlich nah kam, aus dem Chipsteller vor ihr auf dem Tisch aß, woraufhin sie angewidert zurückwich und versuchte, sich unauffällig-auffällig aus dieser Gefahrenzone zu bringen), dass es »bei ihr ja nun auch bald so weit sei« : ja! Es geht mir scho so am Oarsch. Woraufhin gleich ihre Freundinnen ihre Verwunderung teilten, dass sich niemand von ihnen vorstellen könne, dass sie als Mutter etc. Und der Gastgeber, ein freundlicher, immer gut gelaunter, aber zum Zeitpunkt unseres Eintreffens schon ziemlich betrunkener – ja was eigentlich? Schlosser? Mechaniker? Angestellter in der Baubranche? (ich weiß es nicht und schäme mich jetzt dafür. Sie arbeiten – viele von ihnen jedenfalls – von 7 bis 7. Die Spanne, die sie dafür bekommen, ist ziemlich groß, der Unterschied dabei hat eher mit Herkunft denn mit Ausbildung zu tun, natürlich nicht in allen Bereichen. Manche von ihnen essen zu Mittag gar nichts, andere verdrücken Thunfisch aus der Dose und nachmittags Kaffee aus dem Kühlfach. Es gibt Feierabend-Aushilfskräfte, die sich Bier wünschen, weil sich das so gehört auf der Baustelle, und die gerne bei einer Zigarette von den Kindern erzählen, die sie eigentlich viel zu wenig sehen.) – Ernstl, der Gastgeber jedenfalls, beteuerte in der Stunde, in der wir auf dem Fest waren, rund zwei Dutzend Mal, dass er es gar nicht glauben könne, dass er sich irre freue, dass er aber niemals mit uns gerechnet hätte, dass wir (die Aliens aus dem ersten Stock, deren beleuchtete Bücherwände die Szenerie aus schneller Prostitution zwischen zwei Autos, kleineren und größeren Deals und dem normalen, geschäftig-lautem Leben auf der Straße, das die Mieter aus dem Gemeindebau gegenüber mitunter durch Keifen aus dem Fenster kommentieren oder auf diese Weise abstellen wollen, überblicken), dass wir tatsächlich gekommen waren.

Leitungen stemmen, um Licht und Wärme und den Geräten für kabellose Verbindungen die Wege zu weisen. Mobiliar aus den letzten 30 oder 40 Jahren entsorgen. Ausgleichsmasse, Naturstein und Platten zweiter Wahl. Ausflüge an die Peripherie und immer wieder an die wahren Schauplätze der Realitätsausstatter (Baumärkte!) (Es gibt immer was zu tun…).

Irgendwann, es sind schon ein paar Wochen vergangen, fange ich an, die extraterrestrischen Überreste des Untergrundes zu beseitigen. Rote Krähe und Stechbeitel sind da die Hilfsmittel, es vergeht eine weitere Woche, mittlerweile kenne ich weitere Muskel an Oberarmen und -schenkeln, deren Existenz mir bislang verborgen geblieben ist. Der Bankbeamte, der für die Kreditvergabe zuständig sein könnte, ist ein Topberater (so steht es auf seiner Visitenkarte), er trägt die Hemdsärmel wie auf den Plakaten, die für den Aufschwung seiner Bank werben sollen; war auf einer Lesung von mir und versteht die schwierige Lage von uns Künstlerinnen, muss aber darauf verweisen, dass für die Bank nur Ziffern in Schwarz auf Weiß zählen. Ein bisschen rechnet er damit, dass diese neue Erfahrung in einen meiner nächsten Texte Eingang finden könnte (werde ihm den Link zu den Randnotizen schicken) und wünscht mir jedenfalls für mein weiteres Schaffen das Allerbeste usw. Und auch Freunde reagieren auf Produktnamen so, als müssten sie meinen nächsten Buchtitel bewerten. »Löser« findet dabei am meisten Zuspruch.

In ruhigeren Momenten pflegen wir unsere Grätzl-Rituale, die schon das Adjektiv Abschied tragen. Wir gehen zu unserem Wirt Edi, noch einmal, noch einmal, wir gehen auf den alten Spielplatz, die alten Wege, ich fahre die Brache entlang und bedauere, Genugtuung mischt sich unter die minimal traurigen Regungen, weil ich mich darauf freue, das Fahrrad bald nicht mehr durch den engen Eingang und die schmale Treppe hinauf/hinunter in den Hof schleppen zu müssen und auf einmal bemerke ich, dass die kleine alte Frau von gegenüber, deren Mann im letzten Winter gestorben ist, uns vielleicht vermissen wird, wenn sie sich zum Rauchen aus dem Fenster beugt und ein bisschen an unserem Familienleben teilnimmt.

Zwischendurch erhalte ich Nachrichten von der Protagonistin meines übernächsten Romans. Sie schlägt eine Erbschaft in Form eines alten verfallenen Mietshauses aus und erwirbt ein Gartengrundstück. Endlich kann sie ihr Studium abschließen, wird Maklerin für Fertigteilhäuser – eine Profession, die sich im kontextuellen, im literarischen Umfeld viel zu klischeehaft ausmachen würde, als dass ich sie verwenden könnte. Und sie hofft, dass ihr Lebensgefährte und Vater ihres Kindes bald in Vietnam seine ersten Gebäude planen darf.

Während ich diese Zeilen schreibe – in meinem alten »Büro«, dem Kaffeehaus J. im 6. Bezirk, meldet sich der Tischler für den kommenden Tag um 7 Uhr morgens an, er wird mit seinem Kollegen dem von mir abgekratzten Boden den letzten Schliff geben, und der Installateur ruft auch an – es könnte sein, dass wir beim Einzug doch (Warm-)Wasser haben werden. Alles wird gut. So gesehen.

[ Über das Ausmessen meiner Schritte – Tapetenreste, Tapetenwechsel ]

Nebenan ist die Gespensterzone

6. 9. 2009 // // Kategorie Randnotizen 2009

Mit Bach fängt es an, mit Bach hört es auf.

Einmal eine melancholische portugiesische Stimme, als Toni und Nina tanzen. Der Regisseur schaut zu dabei und das Lied aus den Siebzigernern ist schon nicht mehr wahr.

Deshalb kommt sonst auch keine Filmmusik vor, denke ich mir, die Credits bestätigen mich. So ruhig – und das in einem deutschen Film. Aber was ist schon wahr. Wahr scheint der Titel zu sein, er scheint sehr zu stimmen und dann lese ich in einem Interview mit dem Regisseur Petzold, dass er schon »Die Innere Sicherheit« so betiteln wollte, damals (2000) war »Gespenster« aber nur Arbeitstitel. Und was ist schon ruhig. (Stille nach dem Schuß, möchte ich hinschreiben, das ist flapsig und ja, kann es mir nicht verkneifen.) Schmauchspuren also, wenn alle schon tot sind?

Zwei Mädchen finden sich, aber eigentlich findet die eine die andere, lässt eine sich finden, als sie bemerkt, dass sie es möchte, so vielleicht : gefunden werden. Vielleicht schließen sie eine Freundschaft, die nicht so lange halten wird, das ist den beiden schon anzusehen. Aber sie könnte ja für einen Augenblick intensiv sein?

Nina wirkt verloren und dann weiß sie wieder ziemlich genau, was sie will und was nicht. Bei Toni ist es auf eine unklare Weise umgekehrt, aber das kann ja nur scheinbar sein, dass sie bekommt, was sie will : sie ist meistens in Gefahr – oder glauben wir das nur, mit Nina? Es ist leicht oder notwendig, Angst um sie zu haben, denn das was sie bekommt, kann nicht sein, was sie sich wünscht (weil sie das gar nicht wissen kann).

Beim Wiedereinstieg in den Roman, der wegen des großen Abschieds wieder einmal warten hat müssen, recherchiere ich ein wenig in meiner Recherche. Das Gespenster-Kapitel ist eines der wenigen, bei denen es kaum mehr gibt als ein paar hingeworfene Zeilen. Waren zwei Königskinder… Nebenan, neben den Mädchen, beginnt nicht die Normalität, da fängt die Gespensterzone an, nämlich die nächste… (Denn Nina und Toni haben keinen Ort, keine Identität, sie sind keine Untoten, aber lebendig, naja.)

Zwei Mädchen, das eine verloren gegangen schon im Alter von drei Jahren in Frankreich, das jetzt in Berlin auftaucht; das andere wirft sich, scheint’s, hin, will auch gefunden werden. Auf einem Casting zeigen die beiden Figuren um so viel mehr als die beiden Mädchen, die sie darstellen. Natürlich gehört es dazu, eine Rolle zu spielen und zwar überzeugend. In dem Fall soll eine Geschichte erzählt werden, lebendig, lebhaft, von einer Freundschaft. Aber »Freundinnen« bleibt einerseits nur ein Wort auf einem T-Shirt und ist darüber hinaus viel zu klein für das, was in manchen Momenten von Nina und Toni wahrgenommen wird, sie sind sehr Freundinnen und können das eigentlich gar nicht. (Und immer sind die zwei auch eine prima Leinwand für die Anderen, der Regisseur wird für mich auch durch diesen Film mehr und mehr zu einem Lieblingstopos im Film. Die holen sich jedenfalls etwas von der einen und/oder anderen, so still könnten sie gar nicht sein.) In dem Vorsprechen für irgendeine Fernsehshow oder Talkshow nehmen die Mädchen nicht irgendeine Rolle ein, sie scheinen ihre Rollen zu tauschen und spielen dabei das, was sie ursprünglich immer schon gewesen sind. Das schüchterne Mädchen, das mit der Gewalt der anderen glaubt umgehen zu können, das scheue Mädchen, das zuschauen kann und mehr sieht als die Beobachtete.

Eine Frau in Berlin, Französin, auf der Suche nach ihrer Tochter. Dass Nina diese Tochter Marie sein soll, erfahren wir bald, dass sie aber nicht die erste ist, auf die die Merkmale scheinbar zutreffen, auch. Wie schön wäre das doch, wenn alle erlöst werden könnten. Die Mutter eine Tochter, die Tochter endlich eine Mutter, und ein Zuhause, bekäme. Und was bekommt Toni? Den Regisseur? (Dass sie mit ihm zum Ficken weg ist, wie dessen Frau Nina anschnauzt, lässt auch nicht gerade eine zärtlich aufkeimende Liaison vermuten.)

Terroristen sind Gespenster, schließlich können sie nicht ein Leben führen wie irgendwelche Normalos. Auch wenn sie aufzutauchen scheinen wie in einem Film. (Im Jahr 1989 wurde etwa die ehemalige RAF-Terroristin Verena B. begnadigt. Sie bat darum, dass jegliche Entscheidung geheim bleiben sollte – weil sie nicht wieder eine Person des öffentlichen Interesses werden wolle. Nun, zwanzig Jahre später, wurde B. wieder in U-Haft genommen.) Meine Protagonistin ist auch ein Gespenst, ihre Geschichte ist aber weniger schillernd als jene von Nina und Toni. Obwohl.

Die drei Frauen in Petzolds Film bleiben Gespenster von ihrem ersten Auftreten bis zuletzt. Nur die Frau des Regisseurs, die dem eine echte Ohrfeige geben kann, eine so reale, ist ein echter Mensch. Jemanden schlagen ist vielleicht realer als jemanden küssen oder ihm bei einem Frühstück Mut zuzulächeln und keiner weiß, wofür man noch mutig sein kann, sein soll. Françoise scheint recht fröhlich darüber, dass ihre neue Tochter eine Ladendiebin ist, es scheint ihr zu gefallen. Es gefällt ihr so lange, bis Nina sich darauf einlässt und mitspielt. Aber man hätte doch so gerne, dass dieses alleine Mädchen eine Mutter bekommen könnte (nicht einsam ist sie, sondern sehr allein), eine Freundin, einen Menschen, der sie nicht beaufsichtigt.

Bei alledem bleibt »Gespenster« immer auf Distanz – und zwar zu allen. Erzählt von den dreien ohne Rührseligkeit, dafür umso genauer. Deshalb wohl auch die empfundene Wahrheit. Die ist nur dann möglich, wenn nicht in allen Details erzählt werden will, wie kam es jetzt dazu und was ist eigentlich dafür verantwortlich, dass jemand so ist wie er ist.

Gespenster wollen oder können nicht gesehen werden. Arbeitslose. Super-8-Material und dann noch Reisefilme als Transporter für Assoziationen an eine gute alte Welt (Zeit), in der Aufbruch stattfand, sollten ein Impuls sein für diese Geschichte. Die Ankunft in der eigenen Gegenwart und dem damit verbundenen Erwachsenen- und Erwerbsleben dazu der Kontrast. Die heile Welt der Elterngeneration und die unberechenbare Zukunft der Kinder sind nicht kompatibel. Die Umgebung ist ja scheinbar in Ordnung, dabei leben wir in einer unheilen Welt – wissen wir das wirklich erst seit ein paar Monaten!?

Johann Sebastian Bach, »Ich hatte viel Bekümmernis«. Das trifft auf Françoise, Toni, Nina so sehr zu. Ob Gespenster sich bekümmern können? Dass sie umhergehen können wie Lebende, unter den Menschen und Zeichen geben können wie Gespenster, Untote in Märchen? Wenigstens das soll wahr sein.

Was ist schon wahr? Was ist schon ruhig? In der Stille im Keller hört C. alle Geräusche, die möglich sind, sie hört naturgemäß noch mehr als das. Es gibt dennoch keinen Raum (keine Arbeit, keine Identität), buchstäblich, das lebt C. Wenn sie verschwindet – ihre Antwort auf all die Fragen, die sie nicht (mehr) stellen kann – machen und leben die anderen (nebenan) weiter. Was sollten sie auch sonst tun?!

[ Über das Ausmessen meiner Schritte – Recherche in der Recherche. ]

Gehen, Ausgehen

14. 8. 2009 // // Kategorie Randnotizen 2009

Zu der Lesung im rhiz kam ich ein bisschen spät, vielleicht auch deshalb, weil ich vom Gefühl her gar nicht unbedingt zu einer Lesung aufgebrochen bin, sondern eher zu einer Art Konzert, DJ-Set, was alles auch wieder nicht stimmte, denn eine junge Autorin und ihre Übersetzerin stellten ein neues Buch vor, im Suhrkamp-Verlag erschienen. Eine Lesung also, wenngleich in einem Club. Blende. Die platinblonden Haare waren mir – aber ich weiß jetzt nicht mehr, ob da auch ein pinkes Kleid, etwas auffällig Rosarotes oder Aufreizendes im Spiel war, wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich ist das meine Assoziation zu dem Vornamen Barbi – einige Monate zuvor auf einem Fest eines Verlages aufgefallen, „ein großartiges Talent“ raunte mir ein Lektor zu, „schreibt Bernhard neu“, großes Geheimnis, so etwas wie ein Auftritt, ist ja nicht so häufig in der Literaturbranche oder zumindest in meinem Ausschnitt davon. Aber zurück (Blende), und das heißt nach vorne.

Während ich, bevor Bojana vom Clubben genug hatte / Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Bojana vom Clubben genug hat, auch am Sonntag mit Milica aus. Weil Bojana am Sonntag mit mir ausgegangen ist, gehst du jetzt, / nachdem Karrer am Montag nicht mehr mit mir geht, auch am Montag mit mir, sagt Oehler, / nachdem Bojana jetzt genug hat und vor der Glotze klebt/nachdem Karrer verrückt geworden ist und sofort nach Steinhof hinaufgekommen ist.

Barbi Marković scratcht/remixt also Thomas Bernhard. Genaugenommen hat sie aus Gehen von 1971 Ausgehen im „Belgrader Nachkriegs-Nachtleben“ (Klappentext) gemacht, ungefähr das Jahr 2005 meint dies „Nachkriegs-“, denn 2006 ist das Buch auf Serbisch erschienen, jetzt hat es die kongeniale Übersetzerin Mascha Dabić sozusagen ins Deutsche zurückübersetzt, damit fängt es schon einmal an, wird aber immer noch besser. Die Autorin ist Belgraderin, Clubberin, Germanistin. Bei der Präsentation im Wiener Club taucht sie inmitten vieler junger GermanistikstudentInnen und Freunde und Freundinnen auf und unter, es wird das rhiz dadurch keinesfalls, auch nicht ansatz- oder zitatweise zu einem Belgrader Club, das macht auch gar nichts. In Wien ist man es ja gewohnt, dass hier die Szene nicht tobt. (Deshalb gibt es immer noch eine relativ große Gruppe von Bobos oder solchen, die es einmal werden werden, die sich das so vorstellen : Leben in Berlin, denn da ist das Wohnen billiger, sind die Kneipen besser, kann man länger frühstücken usw., Arbeiten in Wien, wegen der besseren Aussicht usf.; aber das ist doch eine ganz andere Geschichte.) Ausgehen, das täte sie schon länger nicht mehr, lese ich irgendwo über Marković, schließlich ist sie mittlerweile auch schon 28. Außerdem sind im Wiener Gürtellokal einfach eher Wiener und Wienerinnen, ältere Herren aus der Verlags- und Popszene, die auf die Autorin bzw. natürlich auf diese Belgrader Ausformung von sog. Popliteratur (Suhrkamp) stehen, Publikum wie ich, in the middle of somewhere – Thomas-Bernhard-Fan von vor zwanzig Jahren und dabei gerade noch so jung, dass das Belgrader Nachtleben, die „sharpen“, „coolen“ und „sexy“ Clubberinnern Bojana und Milica mich schon interessieren …

Hören wir Musik, prüfen wir, was wir hören, und prüfen, was wir hören, so lange, bis wir sagen müssen – das, was wir hören, ist nicht herausragend, es ist mittelmäßig, was wir hören. So wie Marković Bernhard nachgedichtet, ihre Sätze über seine Sätze gebügelt, treffsicher und musikalisch-fetzig über- und neu geschrieben hat, hat sie Thomas Bernhard einen neuen Sinn verliehen und seine Ausweglosigkeit und Verzweiflung hereingeholt in die Gegenwart, so sehr, ich bin bass erstaunt. Fürs erste. So kommen wir das ganze Nachtleben lang nicht aus dem Dummen und Mittelmäßigen heraus, sagt Milica. Jetzt sind endlich die Protagonisten nicht mehr zwei alte grantelnde Männer, die in Wien im 20. Bezirk spazierengehen, sondern zwei Belgrader Clubberinnen. Eskalation natürlich aber, hier wie da. Das Clubbing braucht das Denken nicht, sagt Milica, nur unsere Eitelkeit denkt das Denken ins Clubbing hinein. (…) Die Clubszene ist eine Clublüge, behaupte ich, sagt Milica. Immer wieder strahlen klar die Sätze Thomas Bernhards durch die scharfen Sequenzen der jungen Belgrader Autorin. Es wird dadurch alles (noch) einleuchtender und mir ist sehr schnell klar, dass mir Bojana und Milica und die namenlose Erzählerin viel näher sind als die Hosen kaufenden Karrer und Oehler (bzw. natürlich nicht kaufenden, denn das ist ja unmöglich), was nicht nur mit dem Abstand von knapp zwanzig Jahren zu tun hat seit der Erstlektüre von Bernhards Gehen, sondern auch mit dem Faktum, dass die Aufregung über schütteren Hosenstoff, naja, auch damals schon ziemlich lächerlich schien.. Was ich tue (und erkenne, daß ich es tue), wenn ich sage, daß die Menschen in Belgrad so fad geworden sind, weil beschissene Partys organisiert werden, das ist nicht real. (…) Die Wahrheit ist nichts anderes, als was ich hier sehe: erschreckend. Aber weil ja, wie wir wissen, alles lächerlich ist, wenn man an den Tod denkt, und die „tschechoslowakische Ausschußware“ im rustenschacherschen Laden nur ein äußerer Anlass für Karrers Einlieferung nach Steinhof ist. Weil Karrer nicht nur den Selbstmord des Chemikers Hollensteiner (und die dem Selbstmord vorangegangene, diesen natürlich auch auslösende Auslöschung als Wissenschaftler) nicht verwinden kann, sondern ebensowenig die „vollkommene Auslöschung der Geistesaktivität dieses Landes“. Weil die Kunst des Nachdenkens darin besteht, „das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen“ und Barbi M. mit ihrer völlig uneitlen Neudichtung diesen tödlichen Augenblick ganz bewußt hinauszuziehen vermag, auf geniale Weise nämlich und auf eine kongeniale Weise intertextuell, weil sie den Verstärker macht ohne zu covern, wird Bernhards Text durch die Sätze Markovićs hindurchscheinend, stärker als er es ohne ihn sein konnte. Bojanas Rhetorik war manchmal im gesellschaftlichen Spiel die artikulierteste, Bojanas Art, Drogen zu nehmen, war die vollkommenste, Bojanas Styling war das freakigste, sagt Milica.

Die Germanistin und Autorin Marković verleibt sich den Text Gehen von Thomas Bernhard dermaßen ein, dass sie als schöpferische Leserin schließlich zur Autorin des Textes Ausgehen wird. Wir lesen mit ihr Bernhard, wie wir ihn nicht lesen konnten bisher. Sie, Bojana, habe immer schon versucht zu verstehen, warum diese sogenannten, Bojana sagte immer: sogenannte Belgrader Blicke, immer wieder habe sie darüber nachgedacht, so Milica zu Miloš, warum diese sogenannten grantigen Belgrader Blicke, die obwohl sie tatsächlich dumm, weil unbegründet, sind, dennoch eine mächtige Welle darstellen … Im übrigen gehe ich schon zu lange aus und weiß, daß eure Profi-Basiertheit den höchsten internationalen Standards entspricht. Ob Steinhof oder das völlig gesättigte Hängenbleiben vor der Glotze. Ob ein Coming-Out auf einer Privatparty oder das Begräbnis eines Selbstmörders. Ob Belgrad oder Wien. Was sind schon dreißig Jahre im wirklichen Leben der wahren Literatur!? Wenn wir ausgehen, gehen wir von einem Belgrader Club zum nächsten. Wir gehen und gehen immer von einer schlechteren Möglichkeit zur nächsten. Wegziehen, nichts anderes als aus dieser Stadt wegziehen, wiederholte Bojana, so Milica, immer wieder. Nur weggehen. Die ganzen Jahre habe ich gedacht, etwas wird sich ändern, ich werde aus Belgrad weggehen, sagte Bojana, aber nichts hat sich verändert (weil sich nichts verändern konnte), so Milica, und sie ist nicht weggegangen. Blende. Die Übung für Fortgeschrittene – nämlich sämtliche Tracks, die die Autorin in den Text hineinmontiert hat, wie einen Soundtrack aufzulegen oder wenigstens zu imaginieren – kann ich mangels Kenntnis vieler Titel nicht annähnernd praktizieren (auch wenn ich mich gerne daran erinnere, an dieses Tempo-Schreiben, an dieses In-die-Tasten-Hauen zur Musik, mit der Musik, vielleicht ist das eine Alterserscheinung; kann aber sein, in Markovićs Fall, dass es nur ein Hinweisschild ist : ihren Rhythmus gibt sie selber vor, zuverlässig, bestimmt), das ist nicht wichtig. Es ging schließlich nie um Hosenstoffe, es geht auch nicht wirklich um Belgrader VIP-Clubber. Das ist eine Stadt, in der du abstumpfen mußt, um sie auszuhalten, so Bojana zu Milica. Nirgendwo sonst gibt es eine solche Hochnäsigkeit, eine solche autoerotische Hochnäsigkeit, die du nur aushalten kannst, wenn du schwerst abgestumpft bist. Damit hat niemand rechnen können, dass eine Autorin, die bei Erscheinen der Bernhard’schen Erzählung noch gar nicht auf der Welt war, die Gültigkeit (es taugen wahrscheinlich noch einige seiner Texte zum Remix, jetzt, da der Beweis aber angetreten ist, interessieren natürlich ganz andere, ganz eigene Texte der Autorin Marković, die da hoffentlich kommen mögen) und Welthaltigkeit von Bernhards Literatur veranschaulicht und zwar mit einer ziemlichen Wucht oder einem wahrhaften Witz, was ist da der Unterschied? Existenzbewegung vollständig in Sprachbewegung transportiert (G. Blöcker). So könnte man sagen zur radikalen Schreib-, Denk- und Gehweise Bernhards. Geht weiter, sage ich jetzt zu der Markovićs. Die Zeit, in welcher ich Rücksicht genommen habe, ist vorbei, ich nehme keine Rücksicht mehr, so Karrer. / Der Zustand der vollkommenen Sättigung / der vollkommenen Gleichgültigkeit, in welchem ich mich befinde, ist das Belgrader Zen / ist ein durch und durch philosophischer Zustand.

Zitate aus : Thomas Bernhard, Gehen (1971) und Barbara “Barbi” Marković, Ausgehen (2009) – im Original Izlazenje, Rende-Verlag, Belgrad (2006) – beide im Suhrkamp Verlag erschienen.

[ Über das Ausmessen meiner Schritte– Denken, Sprechen, Sterben ]