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März 2001 oder 1938

13. 10. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Über dem Bett an der etwas schäbigen Wand meines Appartements in Graz hat jemand einen Kalender aus dem Jahr 2001 hängen lassen. Man sieht die dritte Seite. März.

Auf der oberen rechten Ecke ist in winzigen Buchstaben ein Interview mit der Dichterin Ingeborg Bachmann abgedruckt, das aus dem März 1938 stammt. „Es hat einen bestimmten Moment gegeben, der hat meine Kindheit zertrümmert. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt. Es war etwas so Entsetzliches, dass mit diesem Tag meine Erinnerung anfängt.“

Über den Rest des Blattes dehnt sich ein schwarz-weißes Foto von einem Rosenstrauß. Das Bild ist völlig identisch mit jenen, die man auf Beileidstelegrammen verschickt.

Sollte der Besitzer des Appartements später einmal danach fragen – ich habe den Kalender abgehängt und in den Wohnzimmerschrank gelegt. Er wird ihn dort auf der selben Seite aufgeschlagen finden.

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer

29.11.1984

12. 10. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Graz und Triest waren die ersten Städte außerhalb Jugoslawiens, deren Namen ich kennen lernte. Ich wusste, wo sie sich befinden. Wie weit sie von Zagreb entfernt sind. Was mich Sportschuhe in der einen bzw.  Kaffee in der anderen kostete. Und ähnliches.

In den späten Siebzigern und der ersten Hälfte der Achtziger dauerte der Konsumrausch noch an. An den Wochenenden fuhr man in die Grenzstädte, organisiert, mit einem Bus, der genau vor einem Supermarkt hielt. So waren die ersten Dinge, die ich in Graz sah, der Metro-Parkplatz und die unendlichen Regale in der Lebensmittelabteilung dieses Supermarktes, der verglichen mit den düsteren Zagreber Geschäften (wo Milch als Milch, Käse als Käse und Würstchen als Würstchen verkauft wurden) wie ein Spielzeuggeschäft aussah. Meine Mutter hatte immer einen Taschenrechner dabei, sie rechnte die Preise um und wiederholte – Ivana, lass das – oder – Nein, Ivana, das ist zu teuer – oder – Nein, Ivana, das brauchst du nicht.

Nach Triest jedoch fuhren wir selten, da diese Fahrten viel teurer waren. Wegen der Einkaufsvorhaben fuhr man in alter Kleidung und ausgetretenen Schlappen, die man in der ersten öffentlichen Toilette in den Müll warf, wo man in das soeben erstandene Kleid schlüpfte, den Saum stopfte man in die neue Jeans, darüber zwei bis drei nagelneue T-Shirts und darüber noch ein neues Hemd – und über all das kam die neue Strickjacke, die man nicht einmal im Traum in einer Zagreber Boutique hätte finden können. Vor der Abfahrt blieb noch etwas Zeit, um in der Stadt spazieren zu gehen und zumindest ein wenig die Sohlen der neuen Schuhe abzuscheuern. Am Zoll meldete man einen Addidas-Jogginganzug und ein paar Nylonstümpfe an.

Der Einkauf in Graz brachte einem kleine Statussymbole ein. Später teilte man die Kinder in den Schulklassen in die ein, die a) die Bravo haben, b) dir erlauben, die Bravo durchzublättern, wenn sie die Poster herausgelöst haben, c) behapten, dass Milka die beste Schokolade sei, d) ihre Stifte in einer leeren Fanta-Dose aufbewahren, e) mervertštojer nicht aussprechen können, f) nie von einem Überraschungsei gehört haben, und g) am liebsten Nesquick trinken.

Vor der Adventszeit, das heißt am 29. November, an jenem Feiertag, der als Tag der Republik begangen wurde, fuhr meine Mutter allein nach Graz, um Schokoladenkuvertüre und Verzierungen für Weihnachtsplätzchen zu kaufen. Wir bettelten sie an, sie möge uns zwei Fanta-Dosen mitbringen, damit wir unsere Stifte darin aufbewahren könnten. Sie tat so, als hätte sie uns nicht gehört. Sie kehrte düster und schlecht gelaunt zurück, mit Einkaufstüten, in denen beinahe nichts der Bestätigung unseres Status diente. Sie lagerte zehn Tonnen Kaffee auf dem Balkon und genauso viel Ariel, die Schokolade und die Marzipanverzierungen versteckte sie in den obersten Küchenregalen, und wir bekamen unsere leeren Dosen von irgendwelchen Freunden.

Später erzählte sie mir, dass dieses „Shopping jenseits der Grenze“ (so wurde es genannt) ihr immer das Gefühl gab, ein weniger wertvoller Mensch zu sein. Wahrscheinlich wegen all dieser Arieltonnen. Ich gab zu, dass es auch aus uns weniger wertvolle Kinder machte. Wahrscheinlich wegen der Fanta.

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer

11.10.2008

12. 10. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Wir sind heute das Glossar der Strategien für die Vermeidung des Unglücks durchgegangen und haben eigene Techniken hinzugefügt:

make backup

always make backup

trainiere Aikido

schalte deine Handy aus

höre Rossini

lese den Heiligen Paulus

kannst ihn auch zweimal lesen

esse Miso

sei naiv

betrinke dich

nicht unbedingt ständig

stell dir den Wecker

vergiss den Kompass nicht

tarne dich

mach, was du willst

musst du aber nicht unbedingt

und pack deine Sachen zusammen

morgen fährst du nach Graz

dann nach Regensburg

dann nach Udine

dann…

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer

10. 4. 1912

5. 10. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Einer meiner Lieblingsgeschichten von Petercol ist jene, in der er als junger Seemann am Kap der Guten Hoffnung strandet. Ich kenne alle Details. Etwa dass er Zen und Psychoanalyse gelesen hat. Oder dass er die schwarze Möwe durch das Bullauge beobachtete, die hartnäckig dem Schiff folgte. Dass er sich nach dem Schiffbruch nicht von diesem Bild befreien konnte. Ein schwarzer Vogel in einem runden Rahmen.

Ich bitte ihn, mir immer dieselbe Geschichte zu erzählen. Er muss mir aufzeichnen, wie das Rettungsfloß aussah, er muss mir die Verhaltensregeln bei Schiffsunglücken erklären und mir dann ganz ausführlich über die Stunden und Stunden und Stunden und Stunden berichten, die er in den Wellen auf der Naht zwischen Atlantik und Indischem Ozean zugebracht hat, während der Seemann neben ihm mit einem geschmuggelten Messer herumfuchtelt, da er Angst hat, unter der Floßplane gefangen zu bleiben, wenn sie kentern sollten.

Kam es dir in den Sinn, dass du sterben könntest?

Ich war zu jung. So etwas schien mir damals unmöglich. Und wir waren ziemlich viele.

Ich bat ihn, mir nach dem Film Who by Water von Bill Morrison wieder von seinem Schiffbruch zu erzählen. Der Film ist eine Intervention in altes dokumentarisches Material, das Reisende zeigt, die auf Deck eines Dampfschiffes gehen. Der unsichtbare Kameramann erwischt sie, doch niemand der Aufgenommenen begreift, dass es sich nicht um einen Fotoapparat handelt, sondern um eine Technik, die auch ihre Bewegungen aufzunehmen in der Lage ist. Man merkt, dass sie aufmerksam den Anweisungen von der anderen Seite des Objektivs lauschen, aber auch weiterhin das neue Medium nicht erfassen. Sie verharren in vereisten Posen, mit zum Gruß versteinerten Armen, mit gelupften Hüten, mit einem unbeweglichen Lächeln, ohne die Augenlider zu bewegen – wie Tote.

Das Schiff, das sie gerade betreten, ist natürlich die Titanic.

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer