Von meinem Bett bis Europa

21. 5. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

9. Mai

Wie viele Kilometer sind es von meinem Bett bis Europa? Es ist 2.47 Uhr morgens, ich kann nicht schlafen und denke wie seltsam es doch ist von meinem Kopfkissen aus ein Tagebuch zu schreiben, das auf der anderen Hemisphäre gelesen werden soll. Ich versuche, mir mein Leben ins Deutsche übersetzt vorzustellen und denke mir ich sollte, bevor ich ein Tagebuch über meine Arbeit und mein tägliches Leben beginne, den potentiellen Spionen sagen, wer ich bin, von wo aus ich schreibe.

MEIN NAME: Mein Name ist Lola. Meine Eltern schrieben einen Brief, um die Regierung um Erlaubnis zu bitten, mir den Namen Lola zu geben. Als ich geboren wurde war Lola kein Name, nur eine Koseform. Lola sagte man zu den ‘Dolores’. Später, als ich schon in der Schule war, reimte sich Lola mit dem ganzen Lexikon pornographischer Ausdrücke, und die Kinder sangen Lieder mit meinem Namen, die mich zum Weinen brachten. Zwischen meinem siebten und elften Lebensjahr träumte ich davon, Veronika zu heißen.

GEBURTSORT UND DATUM: Ich bin 1976 in Argentinien geboren. 1976 war der erste Militärputsch in Argentinien, viele Männer und Frauen im Alter meiner Eltern verschwanden, und viele in jenem Jahr geborene Babys wurden getötet oder an andere Familien vergeben. Meine Mutter gab damals Literaturunterricht und erfuhr vom Verschwinden und dem Exil mehrerer ihrer Studenten. Mein Vater, ein Architekt, hielt sich aus der Politik heraus. Mein Onkel gehörte der ERP (revolutionäre Volksbewegung) an und musste nach Brasilien ins Exil gehen, weil er im Labor der Brauerei Quilmes, wo er arbeitete, Leute versteckte. Ich sah die Welt mit Babyaugen und alles schien so sonderbar, so schön.

MEIN HAUS: Mein Haus habe ich von meiner Großmutter Dora geerbt. Meine Großmutter hatte Diabetes und schlief im selben Bett wie ihre Kusine Negra, die immer mit dunklen Brillen herumlief, weil sie glaubte man verfolge sie. Das Haus meiner Großmutter (mein Haus) war wie eine Kirche für mich. Jeden Sonntag kamen wir zum Abendessen, und wenn wir fertig waren ging ich heimlich auf den Balkon um mit Gott zu sprechen. Meine Eltern sind Atheisten und ich bin nie in die Kirche gegangen, aber als kleines Mädchen habe ich mit Gott auf dem Balkon meiner Großmutter gesprochen.

ARBEIT UND GELD: Ich schreibe, inszeniere, spiele Theater, aber meinem Vater zufolge ist das keine Arbeit, weil es kein Geld bringt. Mein Vater sagt immer:“Lola, wann wirst Du endlich lernen Geld zu machen ?“ und fixiert mich dabei mit den Augen eines alten Cowboys.
In sieben Jahren künstlerischen Schaffens in Argentinien habe ich niemals Geld verdient. Aber in letzter Zeit konnte ich Projekte in anderen Ländern verwirklichen, um dann wieder hierher zurückzukommen und das ausländische Geld in meine argentinischen Stücke zu stecken, die keinerlei Fördermittel von der Regierung bekommen. Es ist wie im Spielkasino: gewinnen um noch mehr zu verlieren.
Kurzum. Nach der Theorie meines Vaters ist meine einzige wirkliche Arbeit das Unterrichten. Ich leite eine Dramatik-, eine Inszenierungs- und eine Literaturwerkstatt. Meine Studenten sind ein Heer, das mir das Denken und den Lebensunterhalt ermöglicht.

MEINE TRUPPE: Die Künstler, mit denen ich arbeite, bilden ein interdisziplinäres Kollektiv oder eine Sekte von Denkern oder einfach eine Gruppe von Freunden. Sie alle arbeiten im Ensemble mit, weil sie das Projekt interessiert, aber keiner hat je ein Gehalt bekommen und alle haben unzählige andere Jobs.
Alejo macht Filme – sein letzter Film ’La prisionera’ (‘Die Gefangene’) wurde auf der Berlinale gezeigt -, aber seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit Dokumentarfilmen für das Museum für Lateinamerikanische Kunst oder mit Werbespots für Unternehmen.
Ulises ist Komponist, der nicht nur unter seinem eigenen Label Platten herausbringt und Musik für Theaterstücke, Filme, Tanz, Installationen schreibt, sondern außerdem in einer geriatrischen Anstalt für alte an Gedächtnisschwund leidende Menschen spielt.
Luciana ist Tänzerin, Choreographin und leitet die Gruppe Krapp, verdient sich aber ihr Geld mit Unterrichten oder Choreographien für kommerzielle Stücke oder Hochzeiten.
Leandro ist bildender Künstler, arbeitet aber morgens in einer Galerie und nachmittags als Assistent gealterter Künstler, die ihr Lebenswerk die es nicht schaffen, ihr Lebenswerk zu ordnen.
Und die Schauspieler, mit denen ich arbeite (Lucía, Julia, Esteban, Ignacio, Alfredo, Natalia, Umaia, Inés, Gonzalo), sind eine Gruppe unglaublicher Wesen im Alter von eins bis 50, die nicht nur Theater spielen, sondern darüber hinaus auch ihre eigenen Stücke inszenieren oder als Maurer arbeiten, kochen, das Telefon bedienen, Psychiater sind, an der Milchflasche saugen oder in die Schule gehen …

FIKTION/ NICHT FIKTION: Abgesehen von den Arbeiten mit meiner Truppe in Argentinien, arbeite ich mit meinem Freund Stefan an allen möglichen Orten der Welt. Unsere Gruppe ist ein romantisches und ästhetisches Experiment, mal ein Liebesverhältnis, dann wieder ein Boxkampf zwischen Fiktion und Nicht Fiktion . Bisher haben wir „Chácara paraíso: una instalación con policías, expolicías y familiares de policías“ (Chácara Paradiso: eine Installation mit Polizisten, ehemaligen Polizisten und Familienangehörigen von Polizisten) in Sao Paulo gemacht und arbeiten gerade an einem neuen Projekt, das „Airport kids“ heißen wird, über ausländische Kinder, die in Internaten oder Waisenhäusern in Lausanne leben.

In letzter Zeit frage ich mich oft, wenn ich nicht schlafen kann, wie die Zukunft aussehen wird. In welcher Hemisphäre werde ich leben? Werde ich dann noch in Argentinien künstlerisch tätig sein? Werde ich mich immer der Kunst widmen? Warum ziehe ich mich nicht in die weite Pampa zurück und schreibe Gedichte in den Bäumen über Kühe und Gauchos. Wird sich die Erde tatsächlich erwärmen und vollständig überschwemmt werden? Wieviele Kriege stehen mir noch bevor? Wieviele Menschen werde ich noch lieben? Wie werde ich sterben? Werde ich an Krebs sterben, werde ich mich vom Balkon stürzen, werde ich bei einem Autounfall ums Leben kommen, werde ich im Schlaf sterben?

LOLA ARIAS