2.9.1999

11. 7. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Jemand hat Marijana die Nachricht überbracht, Marijana hat Petercol angerufen und Petercol mich.

Er sagte mir, dass Marija gestorben ist.

Ich begann zu weinen.

Gewöhnlich weine ich bei einer solchen Nachricht nicht, sondern trage lange die Information in mir, die Fakten, die Geschichte der Krankheit und die Todesstunde. Und ich brauche eine gewisse Zeit, manchmal Tage und manchmal Monate, um genau jene Stelle zu ertasten, die leer geblieben ist.

Ich umkreise sie. Ich weiß genau, wo sie sich befindet.

Ich habe zwischen Marijas Katalogen eine handgeschriebene Einladung zu der Ausstellung in ihrer Galerie in Grožnjan gefunden. Sie stellte dort ihre alten Bilder aus, die inspiriert waren von dem Gedichtzyklus Die Dünnen von Radovan Ivšić. Es war der letzte Sommer des vergangenen Jahrhunderts, und ich hatte den dringenden Wunsch, die Menschen und die Orte kennen zu lernen, die mich verändern würden, ich wollte John kennen lernen, nach Istrien zurückkehren… dort hatte ich Marija gefunden. Und einige andere.

Ich habe das Reiselesebuch geöffnet, in dem auch mein Ankommen in Istrien beschrieben wird. Einige Male lese ich die Seiten, auf denen es um Marija geht. Und um die Liebe. Es scheint mir, als würde jener Ort, an dem sie nicht mehr ist, immer größer.

“Das eingeengte Kreisen innerhalb der Stadtmauern von Grožnjan stört mich nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ich außer Marija niemanden kenne. Sie hat mir ein Zimmer im obersten Stock zur Verfügung gestellt und verlangt dafür nichts weiter als eine Gesprächspartnerin, wenn sie nicht schlafen kann, aber unter der Bedingung, nicht wie eine alte Dame mit fünfundsiebzig Jahren behandelt zu werden, die sich von einem Schlaganfall erholt und versucht, die Erinnerungen einzusammeln, die in Fetzen in ihrem Gehirn verteilt herumliegen. Sie will nicht mehr an den Tod denken, geschweige denn wie diese alten Leute sein, die nur über ihre Häufchen und ihre Krankheiten sprechen. Das sind ihre Worte.

In der damaligen Umjetnička-Straße ohne Hausnummer dauert das Gespräch bis zwei Uhr morgens, Marija spricht über ihre lang zurückliegende Reise nach Burma, über verstorbene Menschen, die sie liebte, über neue Aquarelle und selbstverständlich über die provinzielle Ungebildetheit und die lokalen Politiker, die sich mit Prosciutto bestechen lassen. Nacht für Nacht knarren wir durch das Haus, sie stellt mit einer Dosis Ironie ihr Leben wieder her, und mich wiederum ermutigt eine der Geschichten, in der sie vor fast vier Jahrzehnten in das zerstörte mittelalterliche Städtchen ohne Strom und Kanalisation kam. Ich frage sie, warum sie geblieben ist. Sie sagt: Aus Trotz.

Nach zwei Uhr morgens atmet Marija leise und lässt zum Glück die Tür offen, denn, ich schäme mich, es zuzugeben, ich belausche sie, während sie schläft, durch das Halbdunkel beobachte ich das Anheben ihrer Brüste, fürchte mich vor diesen zerbrechlichen Äderchen in ihrem Gehirn, habe Angst vor den Kurzschlüssen, die Risse in der Chronologie ihres istrischen Flüchtlingslebens verursachen, weswegen sie den Faden verliert und Dinge wiederholt, während ich mit dem Kopf nicke, als würde ich alles, was sie sagt, verstehen.

Und ungefähr an dieser Stelle tauchst du auf, springst aus dem Rückspiegel hervor und klinkst dich ins Gespräch ein, fragst mich, ob wir im Schatten eines Baumes etwas trinken gehen könnten, ich bin einverstanden, erkläre dir die Situation mit Marija, bitte dich, vorsichtig zu sein und nicht zu zeigen, wenn du dieselbe Episode aus den Grožnjaner Chroniken bereits dreimal gehört hast, ich zeige dir ihre Zeichnung, auf die sie mit Tusche Verse von

Ivšić geschrieben hat (ich wache auf / öffne mich dem neuen Tag / und atme / es ist so schön), ohne damals zu wissen, dass dieses Bild in unserem gemeinsamen Vorzimmer hängen

und dass ich diese paar Tintenkleckse schätzen würde wie auch diese Zeichnung aus deinen Studientagen, als du, statt eine Straße von Rovinj bei Nacht zu malen, mit Grafitstift

nur die Punkte gekritzelt hast, an denen die Straßenlampen brannten. Etwa zehn schwarze Punkte, während der Rest unsichtbar und ungeschrieben bleibt – die ganze Stadt verschwindet, die rund zehntausend mit Eis voll gefressenen Touristen, die wie zwei Paar Flipflops, sich im Kreis drehen, sich über den warmen Wein beschweren und sich manchmal an die Hand nehmen.

Doch wenn du in Grožnjan auftauchst und Marijas Zeichnungen kommentierst, kennen wir einander kaum, du versicherst mir, du würdest dich meiner älteren Freundin gegenüber galant verhalten, denn im Übrigen würdest du lieber zuhören als selbst zu reden, und daher würdest

du dich dafür interessieren, wer ich sei und woher ich komme, du gibst nicht zu, mir bereits seit Monaten zu folgen, und naiverweise begreife ich das nicht einmal und erkläre dir deshalb, dass ich gerade aus Australien zurückgekommen sei, dass ich weder Arbeit noch Pläne hätte, außer ein Drama zu Ende zu schreiben, dass in Zagreb eine Mietwohnung auf mich warte, in der, wie ich glaube, Kakerlaken meine Bücher zerfressen würden. Und da du mir wirklich aufmerksam zuhörst, werde ich dir auch gestehen, die Stadt zu hassen, in der ich geboren worden sei, nicht die einzige zu sein, die von einer einsamen Insel träume, denn sowieso hätte ich weder eine feste Adresse noch eine Handynummer und ich hätte meine gesamten Ersparnisse aufgebraucht und würde mir gerade eine Strategie überlegen, wie ich den Winter überleben soll. Und wenn du mich fragst, warum ich von allen Orten dieser Erde gerade

diesen ausgewählt hätte, denn Marijas Haus sei, wie du hörst, voller Skorpione, die Galerien von Grožnjan seien der schlimmste Keramikerkitsch, und von diesem Berg aus sei das Meer nur an sehr klaren Tagen zu sehen, werde ich alles bestätigen, was du sagst, doch ich werde auf deine Frage keine Antwort geben können.” (Aus dem Kroatischen von Margit Jugo)

Aus: Literarisch reisen: Istrien (Hrsg. von Alida Bremer), Drava Verlag 2008