15.9.1991

30. 8. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Es ist an der Zeit, mein Versprechen einzulösen, die Beine auf den Boden zu setzen und Erik einige Worte über das neue Drama für sein Projekt in Bern zu schreiben. Im Augenblick interessiert mich, den Zyklus fortzusetzen, den ich mit Rose is a rose is a rose is a rose begonnen habe.

Meine Texte bauen immer aufeinander auf, und zwar dank verschiedener Analogien; durch den Einfluss bestimmter Aufführungspraktiken, durch gemeinsame Bezüge auf bestimmte dokumentarische Quellen, durch bestimmte poetologische Motive und Symbole, durch autopoetische Digressionen, durch psychologische und stilistische Motivationen, durch das Insistieren auf rethorische Wendungen, die die Sprache selbst eröffnet, oder durch ideologische Konflikte, die durch das Thema selbst provoziert wurden. Sie verändern die metatexuellen und kontextuellen Verhältnisse. In diesem Sinne möchte ich gerne, dass sich der nächste Text zu Rose is a… so verhält, dass die Diskussion, die von dem ersten Drama angeregt wurde, vom zweiten durch eine neue Perspektive oder durch einen neuen Diskurs verkompliziert wird.

Im Drama Rose is a… bilden die Stimmen der Kinder, die ihre eigene Stadt demolieren, einen narrativen Strang. Hinter ihrem Tun steht nicht das Konzept der Idee von irgendeiner Rebellion. Es ist ein symbolischer Akt der Wut – eigentlich apolitisch und seinem Wesen nach emotional -, in dem der berechtigte Kampf gegen eine soziokulturelle Ghettoisierung wie auch der notorische Kampf gegen die Langeweile und der natürliche (jugendliche) Drang zur Rebellion den gleichen Stellenwert haben. „Ungehorsam gegenüber der Herrschaft ist einer der natürlichsten und gesundesten Akte“, sagt Antonio Negri, und das bedeutet, dass nicht die Gründe für eine Rebellion zu hinterfragen sind, sondern die Identifikation des Herrschenden, gegen den man eigentlich rebellieren sollte. Die Unmöglichkeit, den Feind zu benennen, führt jenen natürlichsten und gesundesten Ungehorsam in paradoxe Sphären.

Irgendwo auf dieser Spur möchte ich den neuen Text beginnen.

Von der Kinderheit aus.

In den letzten Jahren habe ich Erinnerungen meiner Freunde und Bekannten aus ihrer Kindheit gesammelt. Dabei haben mich nicht ihre Traumata oder bizarren Anekdoten interessiert, sondern der Versuch, dass sie sich an etwas wirklich Schönes, nicht verdorbenes erinnern, etwas, was in der Zeit geschieht, in der es noch einen inneren Glauben an die Unschuld der Welt gibt. Eine dieser Erinnerung ist mir besonders lieb.

Edita, eine 83jährige Dame, erzählte mir, wie sie ein Buch als Geburtstagsgeschenk bekam. Bücher waren ein seltenes Geschenk für Kinder, weil man damals – zwischen den beiden Weltkriegen – den Kindern praktische Dinge wie Schuhe oder Wintermäntel schenkte. Aber sie bekam doch diese luxuriöse Ausnahme – ein Buch. Sie erzählte mir, dass sie so stolz war, dass sie das Buch nicht zu Hause lesen konnte, sie wollte, dass alle sehen, was für ein Geschenk sie bekommen hatte, so dass sie das ganze Buch las, während sie um das Haus lief, im Hof auf und ab ging, oder auf der Straße, wo sie ewig stolperte oder gegen Laternenpfähle stieß. Während sie all diese Verrücktheiten aufzählte, die sie mit ihrem Buch angestellt hatte, seufzte sie plötzlich nur noch und winkte mit der Hand ab und sagte: Kinder.

– Kinder.

Und alles wird klar.

Kinder und Kindheit.

Das sind Dimensionen jenseits jeder Kontrolle, und deswegen interessieren sie mich.

Ich will über den Schnitt schreiben, an dem Kinder die Grenzen der Kinderheit überschreiten.

Paradise lost. So würde Erik sagen.

Ich suche diese Schnittstellen auch in mir.

Der Krieg hatte schon begonnen (am 15.9.1991), mit einem Flugzeug, das die Schallmauer über meinem Kopf durchbrach, während ich die ersten Französisch-Lektionen paukte. Ich war auf dem Allgemeinen Gymnasium, hatte meinen Kopf kahl rasiert, ich trug künstliche Wimpern, zu große Sakkos, die mein Großvater mir überlassen hatte, da er glaubte, dass er sie nicht mehr brauchen würde, da er nicht mehr aus dem Krankenbett kommen würde, und einen grünen Armeerucksack, auf den mit einem Kugelschreiber Peacezeichen gemalt waren – und die Namen der Lieblingsbands: The Smiths, The Doors, The Pixies, The Talking Heads, XTC… Im Rucksack sind Tagebücher und etwas Kleidung. Ich haue von zu Hause ab. Um zwei Uhr morgens stehe ich vor der Disco. Ich bin zum ersten Mal so spät noch draußen. Ich friere vor dem Eingang, weil ich kein Geld für eine Eintrittskarte habe. Bald sehe ich einen Jungen, der dasselbe Gymnasium besucht wie ich. Er nimmt mich mit zu sich nach Hause. Ich lese ihm einige Passagen aus meinem Tagebuch vor, und dann ziehe ich mich aus. Meine Freundinnen sagten später voller Neid, dass ich im letzten Moment geflohen sei, denn sie hatten keine Gelegenheit zu einem solchen Abenteuer mehr, da einige Tage später die Polizeistunde eingeführt, die Discos geschlossen und die nächtliche Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden.

So könnte die Kindheit aussehen.

Oder ihr definitives Ende.

Ich spreche jetzt natürlich nicht darüber, wovon das neue Drama handeln wird, sondern darüber, woraus es entsteht.

Aus dem Starren auf die Wand und die Autobahn in Richtung Süden.

Aus dem vorangegangenen Dramentext.

Aus fremden Kindheitserinnerungen.

Und aus der eigenen Chronologie.

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer