Gemeinschaftsraum Nr. 1

31. 5. 2013 // // Kategorie Randnotizen 2013

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Mich fasziniert seit einiger Zeit der Gedanke, dass ich mich selbst manipulieren kann. Ich kann zum Beispiel  entscheiden, woran ich glauben will. Oder dass ich überhaupt glauben will. Ein gutes Beispiel hierfür ist der heiligen Thomas oder Thomas dem Zweifler aus dem Neuen Testament. Jesus Christus ist aus dem Grab auferstanden. Und die Jünger sitzen zusammen und feiern Abendmahl hinter verschlossenen Türen, weil sie sich vor den Verfolgern verstecken.  Auf einmal erscheint ihnen Jesus Christus. Und teilt mit ihnen das Abendmal. Thomas, einer der zwölf Apostel, ist an dem Abend nicht da. Die Jünger berichten ihm später von der Erscheinung. Thomas kann das nicht glauben. Thomas will vielleicht glauben, aber er kann es nicht glauben. Er zweifelt. Und sagt: ”Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meine Hand nicht an seine Wunde lege, glaube ich nicht”. Acht Tage später, die Jünger sitzen wieder zusammen, diesmal mit Thomas, sitzen wieder beim Abendmahl, die Türen sind verschlossen. Jesus Christus erscheint. Und geht auf Thomas zu und sagt: „Streck deine Hand aus und leg sie in meine Wunde.“  Und der nächste Vers lautet: ‘Thomas antwortete und sprach: ”Mein Herr und mein Gott!’.

Das Interessante an dieser Stelle ist, dass Thomas die Kausalität des Glaubens, als ein Mittel zum Zweck, zerschneidet. Er glaubt nicht, weil er den Körper von Jesus Christus berührt hat, denn das wäre kein Glauben. Es wäre ein autoritäres Verhältnis zum Wissen, die Berührung des Körpers brächte einen Beweis mit sich und dann wäre Thomas in einer Welt der Beweise, aber er entscheidet sich gegen diese Kausalität. Er unterbricht diese Verkettung des Naheliegenden. Er zögert. Er entscheidet sich für einen Glauben als Möglichkeit und nicht als Zwangsläufigkeit. Er zerschneidet die Logik des sich Absicherns. Aber vor allem entscheidet er sich für die Unentscheidbarkeit. Hätte er den Körper berührt, so wäre alles entschieden gewesen, aber es hätte auch nichts mehr gegeben, das man noch hätte entscheiden können. Und das ist das Paradox: indem er sich für die Unentscheidbarkeit entschieden hat, hat er sich für die Möglichkeit der Entscheidung entschieden. Er hat sich dafür entschieden, sich selbst umzubauen, sein eigenes Bewusstsein umzubauen, seine neuronale Struktur, die Gewohnheit der Verkettungen und Anschlüsse zu unterbrechen und sie dadurch einer neuen Möglichkeit zu öffnen. Die Gewohnheit hätte geboten, den Körper zu berühren. Indem er ihn nicht berührte, führte er eine neue Möglichkeit in die Welt ein. Die Möglichkeit, nicht glauben zu müssen, sondern glauben zu können. Das ist, meine ich, der Urmoment des Glaubens überhaupt.

Ich war vor ein paar Monaten mit “Imitation of Life” auf Tour in Südafrika . Wir haben das Apartheidmuseum in Soweto besucht und da lief ein historisches Videodokument, in dem der erste Apartheidspräsident verkündete, dass die schwarzen Kinder in der Schule lernen müssten, dass es ganz natürlich sei, dass sie weniger Rechte besässen, als weisse Kinder. Und dass das auch immer so bleiben würde.  Und ein paar Ausstellungswände weiter stand ein Zitat, von Steven Biko, dem Bürgerrechtler, der von der Polizei zu Tode geprügelt wurde und der sagte, dass die grösste Waffe in den Händen der Unterdrücker die Köpfe der Unterdrückten sei. Sie glauben zu machen, dass sie minderwertiger seien oder sie zumindest an diesen Gedanken gewöhnen zu lassen, auch wenn sie ihn vielleicht nie akzeptieren würden – nichts ist stärker als diese Fiktion. Das sagte er 1975 und 20 Jahre zuvor, genauer gesagt am 1. Dezember 1955, sitzt eine kleine Dame mit Namen Rosa Parks im vorderen Teil eines Busses in Alabama, als der Chauffeur auf sie zukommt und sie in den hinteren Busteil verweist, da dieser Platz nur für Weisse reserviert sei. Und an diesem Tag, ich weiss nicht warum, sagt Rosa Parks einfach Nein. Vielleicht hat sie es sich vorgenommen, vielleicht war es eine spontane Geste, wir wissen das nicht, aber sie sagt NEIN. Sie beschliesst, nicht mehr an die Fiktion der minderberechtigten Identität zu glauben. Das, was sie ihr ganzes Leben zu sein hatte, dieses Selbst, das weist sie zurück. Sie ist in dem Moment nicht mehr sich selbst und zugleich vielleicht zum ersten mal sich selbst. Sie führt eine andere Möglichkeit in die Ordnung der Dinge ein, nämlich die Möglichkeit an diesem Scheissplatz einfach sitzen zu bleiben, egal welche Hautfarbe, welches Geschlecht, welche Sexualität, welche Gesinnung sie haben mag. Und vielleicht dachte sie in dem Moment dasselbe wie Howard Beale in „Network“: Ihr könnt mich alle am Arsch lecken, ich mach das nicht mehr länger mit!¨

Oslo, 31. Mai 2013