Jede Wirklichkeit ist eine Fiktion

7. 7. 2013 // // Kategorie Randnotizen 2013

Die letzten paar Tage war ich in Sofia an einem Symposium/Festival zum dokumentarischen Theater. Die Form des Dokumentarischen als eine Möglichkeit, Theater zu machen, ist hier noch relativ neu. Dokumentarische Praxis, zum Beispiel Theaterstücke bestehend aus Interview-O-Tönen (eine Technik, die hier “Verbatim” genannt wird) wird seit etwa einem Jahr auf Bühnen in Sofia praktiziert. Der deutsche Doku-Regisseur Georg Genoux, der zuvor das Moskauer Teater.doc und das Beuys-Theater leitete und sich nun in Sofia niedergelassen hat, hat das Symposium zusammen mit Wasilka Bouborova organisiert und mehr oder weniger aus eigener Tasche finanziert. Wasilka Bouvorova ist sowas wie die “godmother” oder die Seele des bulgarischen Theaters.

wasilkatb

Das Symposium stand ganz im Zeichen der Proteste gegen die Regierung, die die Menschen seit vier Wochen auf die Strasse treibt. In deutschen Medien wurde bisher darüber kaum berichtet, da sich der Fokus ganz auf Istanbul richtete. Bei dem Symposium zeigte die Gruppe “vox populi” ein Projekt, das die Proteste direkt zum Thema machte. Die Darsteller gingen auf die Strasse und machten Interviews mit Demonstranten. Diese Interviews wurden dann in der Performance live wiedergegeben. Bereits im Winter diesen Jahres gab es Demonstrationen gegen die Regierung, nachdem sich die Strompreise verdreifacht haben. Die Demonstrationen führten zu einem Rücktritt der Regierung und zu Neuwahlen (auch das hab zumindest ich nicht mitgekriegt). Nun ist der allgemeine Vorwurf der Korruption Gegenstand der Demos. Eine Regisseurin sagte zu mir, dass die Winterproteste ökonomischer Natur und viele ärmere Leute daran beteiligt waren; nun hätten die Proteste eher einen moralischen Hintergrund und beteiligt seien vor allem Menschen aus dem Mittelstand, Intellektuelle, Künstler und Leute, die es schick finden, protestieren zu gehen. Die Demos seien dennoch nicht weniger wichtig, so die Regisseurin und machte sich auf den Weg zum Regierungsgebäude. Sie verabschiedete sich mit den Worten: I have a duty. Diese Klarheit fand ich verblüffend.
Am nächsten Tag ging ich mit meinem Freund, der mich hier besucht, in der Stadt spazieren. An einer Mauer stand: Legalize DMT.

P1140917

P1140913

Während des Symposiums wurden unter anderem kleine Solo-Arbeiten gezeigt, die Schauspieler der Gruppen “vox populi” und “replica” in einem Workshop mit Georg Genoux erarbeitet haben. Es ging bei dem Workshop darum, als SchauspielerIn die eigene Geschichte zu erzählen. Die Schauspielerin Irina Andreeva erzählte in einem etwa 20 minütigen Solo, dass sie ein festes Engagement an einem italienischen Theater abegelehnt habe, weil sie lieber in Sofia eigene Dokumentartheater-Projekte machen möchte. Nun mache sie zwar solche Projekte – so wie gerade in dem Moment, in dem sie davon erzählte – könne davon jedoch nicht leben und müsse daher zusätzlich jeden Tag als Reinigungskraft in einem Fitnessstudio arbeiten. Ein Teil ihres Solos bestand anschliessend aus Geschichten und Begegnungen, die sie dort in diesem Studio erlebte. Sie beendete ihr Solo damit, dass sie den gesamten Theaterraum mit einem Wischlappen aufnahm, im Hintergrunf “Vissi d’Arte” aus “Tosca” von Puccini.
Später gab es Ziegenkäse, Gurken, Tomaten und Wein auf dem Dach. Ich sagte zu Irina Andreeva, dass ich es interessant finde, wenn Schauspieler auf der Bühne von sich selbst erzählen. Da man Menschen vor sich habe, deren Beruf es ist, andere von einer Figur zu überzeugen, wisse man in einer dokumentarischen Theatersituation eigentlich nie, ob das ganze nicht gelogen sei. Für mich ist der Schauspieler in dem Moment so etwas wie eine Kippfigur der Wirklichkeit. Es könnte stimmen, es könnte aber auch nicht stimmen. Irina Andreeva antwortete, dass das ja auch auf Regierungen zuträfe, schliesslich würden sie deshalb ja zur Zeit in Sofia jeden Tag demonstrieren gehen. Das, was die Regierung vor wenigen Wochen noch zu tun behauptet habe, nämlich etwas gegen die Korruption zu tun, hat sich nun als Illusion herausgestellt. Das sei doch sowas wie gefaktes, dokumentarisches Theater, so Andreeva. Etwa eine halbe Stunde später verkündete Georg Genoux, auf Spiegel online stünde, dass das ägptische Militär gerade Präsident Mursi abgesetzt habe.

Bildschirmfoto 2013-07-04 um 02.52.44

Bildschirmfoto 2013-07-04 um 02.53.07

Irina Andreeva erzählte mir eine Geschichte, die hier absurderweise einfach extrem gut passt: 2004 habe sie für eine Weile in Berlin gelebt. Irgendwann stand sie in einem “Kaisers”-Supermarkt an der Kasse. Es ging nicht voran, hinter ihr hatte sich mittlerweile eine lange Schlange gebildet. Vor ihr stand eine alte Frau, die etwas verwirrt in ihrer Brieftasche herumnestelte und nach Geld suchte. Irgendwann hat die Frau an der Kasse gefragt, ob sie ihr helfen könne. Darauf hin übernahm sie die Brieftasche und holte zuerst ein paar Deutsche Mark heraus. Sie müsse das Geld in der Bank in EURO umwechseln, nölte die Kassierin die alte Frau an und suchte weiter. Darauf hin fischte sie ein paar Ost-Mark heraus. Dieses Geld sei schon länger nicht mehr gültig, sagte sie stirnrunzelnt. Schliesslich holte sie einen sehr alten Schein heraus. Es waren 100 Reichsmark oder so.  Die alte Frau war total überfordert. Das habe sie irgendwie berührt, meinte Irina. Erst habe man der Frau Reichsmark verkauft. Das war die wirkliche Währung. Danach war alles anders und über 45 Jahre bezahlte sie ihre Einkäufe mit Ost-Mark, in dem Glauben, dass das die wirkliche Währung sei. Dann kam plötzlich die West-Mark. Und das war nun wirklich die wirkliche Währung. Bis auch die schliesslich 2002 vom EURO abgelöst wurde. “In Bulgarien gibt es noch keinen EURO, zumindest nicht für den täglichen Gebrauch”, sagte Irina.

Vor drei Tagen bin ich in Sofia durch die Fussgängerzone gelaufen. Ich telefonierte gerade mit einem guten Freund. Es ging um Beziehung und Trennung. Plötzlich musste er aufhängen. Ich lief weiter. Irgendwo hörte ich die europäische Hymne. Ich schaute mich um und sah eine kleine, ältere Dame im Strickpulli vor einem Hauseingang stehen. In der linken Hand hielt sie einen Stoffbeutel, in der anderen eine Mundharmonika. Sie spielte “Freude schöner Götterfunken” im Loop. Ich fand das ein gutes Statement.

P1140905

“Nennen Sie mir eine Sache auf dieser Welt, die nicht verhandelbar ist” (Walter White)