Einstiegsunmöglichkeiten

25. 5. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

Er ist falsch, denkt er. Denkbar falsch. Die Hügel und Berge im Hintergrund haben unterschiedliche Blautöne. Er versucht kurz, sie genauer zu bestimmen, aber dann fällt ihm ein, dass er sich vorgenommen hat, sich nicht länger bei der Farbe Blau aufzuhalten. Der höchste Berg ist der sogenannte Hausberg. Der Gipfel kahl, bewachsen nicht mit Bäumen, sondern mit Masten aus Stahl. Er mag den Berg nicht und er mag Menschen nicht, die meinen, einen Hausberg zu haben. (Luis Trenker, denkt er, hat sicher einen Hausberg gehabt. Reinhold Messner. Und wie sie alle heißen mögen.) Und der Hausberg, der nicht sein Hausberg ist, macht ihm klar, dass er falsch ist, denkbar falsch. Er muss an die vielen Einstiegsmöglichkeiten denken, die ein Berg bietet, sogar ein Hausberg, und daran, dass ihm keine davon möglich ist. Er ist nur zweimal auf dem Hausberg gewesen, und beide Male haben andere die Einstiege gewählt. Er ist nur nachgegangen. Kein Einsteigen also, denkt er, ein Nachgehen und Folgen. Die direkten Einstiege, in den Berg, in den Text, sind falsch, weil alles falsch ist. Er.

Möglicher Einstieg: das Festival selbst. Steirischer Herbst. Viel Vergangenheit und Geschichte, Avantgarde, die sich zu tradieren begonnen hat. Es ist nicht seine Geschichte, denkt er, nicht seine Tradition. (Dass es literarische Avantgarde gibt, glaubt er nicht.) Zwei intensive Erinnerungen hat er daran, obwohl er nicht mehr sicher weiß, ob es tatsächlich Herbst-Veranstaltungen waren oder ob er sich das nur einbildet. Einmal Bänke. Einfache Parkbänke mit eisernen Seitenstützen und Sitzflächen und Rückenlehnen aus Holz. Rot, so weit er sich erinnern kann. Sie waren auf dem gemauerten Bahndamm neben einer Einfahrtsstraße montiert, ihrem Zeck entfremdet, dem Gebrauch entzogen. Um nur neunzig Grad, dadurch aber aus allen Koordinatensystemen gekippt. Die Bänke haben ihn fasziniert. Er hätte nicht sagen können, warum, aber die Faszination war da. Und die Enttäuschung, als die Bänke nach einem Monat wieder verschwunden waren. Und einmal ein Plakat für ein Bauer-Stück. Bauer selbst darauf zu sehen, gespiegelt beim Pissen. Aufschreie, glaubt er sich zu erinnern, Skandal. Den Namen des Stückes hat er vergessen, wahrscheinlich überhaupt nie bewusst wahrgenommen. Aber Bauer, erinnert er sich jetzt, gelesen oder gehört zu haben, soll bis zuletzt wöchentlich den Hausberg besucht haben. Dort getrunken und den Hausberg dann wieder hinter sich gelassen haben.

Möglicher Einstieg: die Textgattung, Blog. Eine Form des Tagebuches, und er hat noch nie ein Tagebuch geführt. Allenfalls: Vor einem Jahr hat er damit begonnen, jeden Tag abends in einem Wort zusammenzufassen. Das am öftesten verwendete Wort in diesem Vorjahr war: verschieben. Viermal hat er es verwendet (auch in diesem Jahr schon zweimal), und er weiß nicht, was ihm das sagen soll. Über ihn. Über sein Leben. Über die Welt, in der er verschiebt und verschoben wird. Aber ein Wort am Tag: Ist das schon ein Tagebuch? Oder nur Wortumwölktes?

Möglicher Einstieg: das Motto. Back to the future. Eine verkehrte Bewegung, denkt er, verkehrt in sich selbst und verkehrt zur allgemeinen Bewegung. Blind voraus in die Vergangenheit mag sie heißen. Auf den Plakatwänden etwa, die wie böses Unkraut aus dem Müll des Straßengrabens wachsen. Stopp-Tafeln, die parallel zur Straße verlaufend ein Abbiegen in die Äcker und Wiesen verhindern sollen. Um neunzig Grad verschoben auch sie, aber keine Faszination geht davon aus. Faszinierend findet er nur, dass er sich zum wiederholten Mal verliest. Er liest: Stopp Aischylos. Und weiß nicht, warum man gegen tote griechische Dramatiker wettert. Außerdem, ruft er sich ins Gedächtnis: kein Blau mehr.

Möglicher Einstieg: Themenvorgabe. Er nimmt den Din-A-4-Zettel aus der Tasche, entfaltet ihn. Eine Reihe von Wörtern, schwebend und in unterschiedlicher Schriftgröße, Word-Cloud. Er liest: Zahnprothesen, Moderne, Altlast, Generation, TabulaRasa, Erblasst (recte: Erblast), Historisierung, LostAndFound, Ordnen, Kapital und Erinnerungskultur. Das zentrierte und am größten geschriebene Wort ist Heritage. Sehr klein geschrieben sind die beiden Worte Widerstand und Revolution. Aber eigentlich sind alle Wörter dieser Wolke große Wörter, egal in welcher Schriftgröße sie geschrieben sind. Große Wörter, vielleicht zu groß für ihn. Er denkt: Erbe, und er fragt sich: Setzt jedes Erbe einen Erblasser voraus? Das heißt: einen Toten? Das heißt: Tod? Hat er – er kann sich nicht erinnern – tatsächlich noch nie geerbt? Würde er selbst, irgendwann … vererben. Erblasser (recte: Erblasser) sein? Toter? Und warum spricht er von sich in der dritten Person? Wie Caesar? Und Canetti, manchmal?