Wahrnehmungsmusterung

3. 6. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

S018_sw

Er kommt immer wieder hierher. Im Gehen, im Schreiben – es ist ein und dieselbe Bewegung, denkt er. Er hat keine fixe Route, aber manche der Gebäude steuert er jedesmal an. Wasserturm. Kirche. Mahnmal. Kinder- und Jugendabteilung. Neurologie. Die Abteilung für Suchtkranke. Hier hat er es zum allerersten Mal bewusst wahrgenommen. Ein Wintertag, feuchter Schnee. Patienten stehen im Kreis um einen eieruhrförmigen Aschenbecher auf Beton. Sie rauchen Kette. Mäntel und Jacken, die nicht wärmen, hängen über ihren Schultern. Darunter Trainingsanzüge. Gegen vier kommt ein älterer Mann. Er trägt einen Rucksack und in jeder Hand eine Plastiktasche. Billige Alkoholika aus dem nahen Supermarkt. Der Raucherhof füllt sich rasch mit weiteren Patienten. Geld wechselt den Besitzer, Rucksack und Taschen leeren sich rasch. (Er tut das Falsche denkt der Mann. Er verkauft die Flaschen im Wissen, etwas … Unrechtes zu tun, aber das Geld, das er damit verdient ermöglicht ihm das Auskommen. Die Pension allein … Was bedeutet schon Pension, wenn die Teuerung keine Ruhezeit kennt.) Das meistgekaufte Produkt ist ein roter Kartonquader, in dem sich drei Fläschchen mit Magenbitter befinden. Aus irgendeinem Grund prägt er sich Marke und Aussehen der Verpackung ein.

S036_sw

Neben ihm auf dem Förderband der Kassa stehen drei Bierdosen. Und einen Stern, sagt der Mann zur Verkäuferin. Die Verkäuferin greift nach unten, irgendwohin zu ihren Füßen, und legt den roten Kartonquader auf das Förderband. Der Mann bezahlt und geht nach draußen auf den Platz, auf dem kein Alkohol mehr konsumiert werden darf. Er versucht über das Förderband zu sehen, aber es gelingt ihm nicht. Beim nächsten Einkauf schielt er der Verkäuferin von hinten über die Schultern. Ihre Beine stehen inmitten roter Säulen. Übereinandergeschichtet ein Karton auf dem anderen. Und ein Kartonturm neben dem anderen. Er beobachtet sie eine Weile und ist erstaunt darüber, wie oft sie einen oder zwei oder drei Kartons aus der Versenkung holt. Die Türme schwinden. Im Laufe der nächsten Wochen und Monate fällt ihm auf, dass die Beine vieler Kassiererinnen zwischen roten Türmen stehen. In anderen Supermärkten anderer Bezirke. Manche Türme schwinden schneller, manche langsamer. Aber sie schwinden alle.

S032_sw

Erst eine dritte Bestätigung, denkt er, formt eine Serie und fokussiert den Blick soweit, dass er fast blind für alles andere wird. Der Mann (wieder, denkt er, ein Mann) ist Mitte dreißig. Er geht schnell über den Platz, geht schnell durch den Supermarkt, hat das wenige, was er braucht schnell beisammen. Es ist nur eine Flasche Eistee und ein roter Karton. Er bezahlt schnell. Erst wenn er das Geschäft verlassen hat, geht die Hast verloren. Die Bewegungen langsam, bedächtig. Eine Ahnung von Andacht. Er geht zu einem der Mistkübel, klemmt die Eisteeflasche zwischen die Oberschenkel und öffnet die Kartonbox. Er zerknüllt den Karton und wirft ihn weg. Die drei Fläschchen drückt er mit dem Daumen gegen die Handinnenfläche. Es sieht aus, als wollte er Palmieren üben. Dann dreht er die drei roten Plastikkappen von den Fläschchen und wirft auch sie weg. Er trinkt die drei Fläschchen zugleich und in einem Zug aus. Wirft sie in den Mistkübel. Eine Weile lässt er den bitteren Geschmack nachwirken, dann spült er ihn mit der Süße des Eistees weg. Irgendwann geht er wieder. Und irgendwann kommt er wieder. Um sich einen Karton zu besorgen. Seltener auch zwei.