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treppabwärz

17. 7. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

Wieder haarscharf an einer Kapülskilesung vorbeigeschrammt. Als ich, wütend schnaufend, mit aerodynamischer Ärgerzigarette, endlich in die Joseph-Roth-Diele reinpfiff, sah ich ihn gerade noch die Fliege machen, eine gut rasierte Albino-Fleischfliege in harmonischem Tempo, die, passend dazu, auch pünktlich um 18h begonnen hatte ihre Arbeit zu verrichten, und jetzt in ihren wohl verdienten Feierabend sauste. Tant pis. Tante Pisse war sauer, weil wir auf ihrem Stammtisch saßen und quatschten. Die längste Zeit betrachtete ich aber stumm das Logo des Verlags, eine schwarze Schifahrerfigur, die sich über die Kuppe eines Gehirns manövriert. S, die sich ungeheuer gut auskennt, war ungeschminkt am Nachmittag schöner gewesen, aber es wurde wieder, als sie anfing zu rauchen und ihre Jeansjacke auszog. Ein bedeutender Teil des Lippenstifts blieb an der Zigarette. H wirft mir vor, ständig misogyne Beobachtungen zu machen. Er liefert eine Beschreibung des Journalisten, der sich gerade schweißtreibend bemüht, ohne Mikro die Kneipe vollzulesen. Während sich der dunkle Spiegel in Hs Bierkrug immer tiefer senkt, wird der arme Journalist vom korpulenten Herrn zum Dickerchen, zum Pummelchen, zum Fettsack. Dagegen halte ich, dass meine Wahrnehmungen wenn auch schonungslos, so doch von einer großen Zärtlichkeit sind. Meine auch, sagt H, zumindest manche davon.

Sie kommt rein: 5780 Falten in einem recht kleinen, schwarzen Strickkleid und BH-Trägern, ein großes Lachen, ein größeres, leeres Bierglas, wolliger rotgefärbter Pferdeschwanz, und der gewaltsam herzerfrischende Hauch einer eben ausgelutschten und abgekiefelten Zitrone mit der Frage, ob der Tisch hier frei ist, an dieser Stelle, also Ecke.

Über der grünen Bastsandale ist das grüne Strickminikleid unter der linken Arschbacke eingezwickt, über der rechten, blauen, nicht. Auch dieser Pferdeschwanz ist wollig-verfahren, umfasst allerdings nicht die Totalität der Haare. Eine Tasche am unteren Ende langer Träger aus dem selben Material, Rotleder.

J kommt rein. Über uns beginnt der Film zum zweiten Mal. S hat eben noch eine Runde ausgegeben und besorgt mir die Fauser-Bücher. Meine Wahrnehmungen sind immer noch von einer großen Zärtlichkeit. Wir gehen schauen, ob es das Kumpelnest noch gibt. Der Geldautomat gibt mir kein Geld, weil ich die Karte falsch hineinstecke, aber nicht auf die Idee komme, weil mir das Diagramm so eindeutig erscheint. Und so zärtlich. Erst spät in der Nacht wird mir dämmern, dass die Zärtlichkeit, also der punktierte Strich der Zeichnung des Chips, bedeuten will, dass dieser an der Unterseite eingesteckt gehört.

“Man rieb sich die Augen, aber das half auch nichts. Wenn die Halluzination die Alltäglichkeit einer Zigarette hat, dann sind auch die Pforten der Wahrnehmung, wie die Wahrnehmung selbst, aus einem trügerischeren Stoff als Rauch.”

Also im Kumpelnest, links und rechts von mir zwei von mir überaus geschätzte Männer, die Bartexperimente machen, ich tue mit den Requisiten vor mir am Boden herum, Weißwein, Aschenbecher, Zigarettenschachtel, Feuerzeug, Bleistift, Notizbuch, und mein schlechtes Gewissen schwappt wie ein immer stärker niedergehender Regen in meinen Stiefletten herum. Als die Frau im roten Leibchen und dem Jeans-Minirock vom Fenstersims niedersteigt, wo sie getanzt hat, setzen wir uns dorthin um den einzigen Tisch. Nach ein paar Nummern kommt sie wieder und wir müssen zurück auf die Couch. Jetzt! ruft H, als die Musik so schlimm wird, dass selbst die Tänzerin, die offenbar hier arbeitet, nach draußen geht, und wir stürzen uns auf die freien Plätze. Bald kommt sie wieder und wir übersiedeln nach draußen. Dann schauen wir ihr durch die Scheibe etwas belämmert zu, wie sie langsam den Schlauch ihres Oberkörpers und Unterleibs bewegt, in etwa wie dieses Spielzeug der Achtziger, ein Slinky.

Lange Zeit stammelte mein Daumen zwischen den Seiten

4. 7. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

, ich im Halbschlaf, die andere (rechte) Hand noch auf verlorenem Posten und versuchte, sich Notizen zur Arbeit zu machen. Es ist über eine Sammlung von Stellen, die ich wiederfinden möchte, nicht hinausgekommen (nun aber in zwei Tagen etwas Vorzeigbares produzieren). Bloß eine schöne Liste (wie schön war es, als ich noch über Listen schrieb). “Oh, das Objekt lauert,” lese ich gerade im Posteingang von Friedrich Theodor Vischer.

wezel, tobias knaut, bd 1

erster-band.thumbnail.jpg

49 Substrat (substitut?) von Kritik
81 vis obtrectatoria
107 status evacuitatis
146 Kutsche umwerfen (vgl Emilia Galotti)
155f Unruhe der Gedanken (156!)
165f Apologieschnörkel für Herrn von L.
174 –irte –irte –irte
180 Kindsmörderinnenpointe

bd II
23-29 Tobias’ Herz ist ein Instrument…
37 des Lebens Widerwärtigkeiten kleine Hunde
38 Natur / Philosophie in der Mutterrolle
39 der Vorzug des Philosophen
45 Loblied auf die Einbildungskraft
66 Gedanke : Reim / Körper : Seele
86 Hauptmann von V***, der witzigste Kopf in der Nachbarschaft, auf zwo Meilen in der Runde
96 Bin “allemal der erste gewesen, der aus den erzählten Handlungen der Menschen das wenige Gute, das darinne enthalten war, herauszuklauben suchte, und bin es gewesen, ohne den vorsetzlichen Willen, es zu seyn.”
99 “Ist es Unbekanntschaft mit der Geschichte, oder verhält es sich wirklich so?” (Stoiker / Dummköpfe für die Tugend)
103 angestrichene Statuen
105 zu genaue Zergliederung
115 die leicht Entflammbaren / Begeisterung fürs andere Leben / Glück und Unglück des Verstehens (?)
118 “Ovid ein Dichter, und ich nur ein Prosaist” …”müssen in der Poesie ein paar Schüsseln mehr aufgetragen werden.”
152 A u. B debattieren über das Bekehren, nachdem sie Tobias bemerkt haben.
195 “Fluß im Kopfe, die Verhinderung der Transpiration zu verhüten, eine Stutzperücke” (sic)

bd III
12 Genie – “erfodert eine so schnelle Bewegung der Lebensgeister, die derjenigen am nächsten kommt, welche die Raserey veranlaßt.”
32 Heute disputiere ich nicht
36 zischelt ein hagerer Mann (abyme) Kritik
37 Nachahmung als letzter Touch der Erziehung
60 Tobias ergrimmte
93 Venus kommt durch Eigenliebe rein
100 Lichtreflexionen = sehen
107 Neuvergötterter
109 Lauter kleine Kopien von den Szenen und Gegenständen im verliebten Kopf
112 Sich selbst beobachtende Leser sind für einen Schriftsteller, der Selbsterkenntnis für das Wichtigste unter Sonne und Mond hält, eine große Freude!
113 Newton etc. teilweise Nachforschungen unterwegs steckengeblieben – gestanden es oder andere Leute
114 wie zuvor: Idiot der, der seine Irrtümer nicht erkennt
123-125 gutes Lesen. vgl. Serners Vorrede zur LL
130 Die Eigenliebe ist ein gutes Weibchen
133 Skeptizismus wieder
142 Amor als Prügelknabe, der nicht ganz so sehr schuld hat wie man den Anschein geben will
148 Alfimandus (lächelte 150 wie ein junger Gott)
154 vgl. Rorty
159 Menschen auf Sprossen
169 Nicht Gründe! Man muss ihnen eine Sache oft machen.
175 der junge L (Verfasser streichelt sich übers Kinn)
194 kleine fromme (Geheim)gesellschaft
200 Selman ein Bigotter // Helvetius Zitat
206 “Ist unser Kopf nicht eine bloße Wand”
207 Wer ist die Mutter der Zufriedenheit?
207f Gedanken sind Kameleone (vgl Glast-Projekt)
210 “Von dem Strome der Notwendigkeit hingerissen, ist also unser Geschlecht ein solcher elender Haufe geworden””

bd IV
2 Vorrede. Er weiß was er tut und belegts wieder mal mit einer Leerstelle.
15 Identität als Opfer stabiler
24 Advocatus diavoli
29 erleben, dass ich von diesen Sachen, denen die Ernsthaftigkeit so unentbehrlich ist, nicht viel halte.
57 Du guter Tröster Schlaf [unterbricht sein Philosophieren vor der tödlichen Schlussfolgerung]
58 Philosophie und Mangelgesellschaft
59ff Wenn andere Leute glücklich sind …
65 Dadurch werde ICH nicht schlimmer
66 zugeworfene äußere Glückseligkeiten
68 zu dieser Glückseligkeit ein System mit neuen Regeln
77 gelehrte niaiseries / oekonomie
79 radotieren
84 Knaut stellt die Absolutheit von Speisen in Frage
94 “superfeine Gefühle”
97 der tolle Mann
103 Die Rechtschaffenheit ist ein träges Schiff, das sich in keine Richtung bewegt.
111 Totaler Unruhezustand
113 stoizistische Solipsie wieder
118 empfand, wie bitter…wenn man es richtig erklären will
123 “nicht knautisch. – indessen geschahs; und ich möchte wissen, warum.”
125 nicht eine Unze weniger Schmerz fühlte, als er empfand
127 Grundsätze in Allegoriegestalt
139 toller Mann
143 Staat, in dem alles auf Eigenliebe beruht
153 “… Welche Strafe” Intermission macht einen dreh mit Handlungsmotiv; so auch kurz vorher “so wenig wie ein Apfelstiel” nach Apfeldiebstahl: 142
154 “Der Mensch muss allererst, wenn er lebhaft und mit Feuer handeln soll, nach Illusion handeln.”
161 Ruhm und Unterscheidungsbegierde
165 die Schöpfung von TKs Ruhmbegierde nach der Atomlehre
170 Gespräch mit dem klugen Bauern Martin
183 “Furchtsamkeit, diese Blödigkeit unsrer Begierden”
184 Verfasser ein Freund solcher Illusionen
190 Gewohnheitskameradschaft der Ideen
198 “Von ihrer Eigenliebe giengen unsichtbare Faedchen, dünne wie Menschenhaar, aus, und waren an alles geknüpft, was sie liebte”
203 “Ihre Hände wären so schön, daß sie sich das Gesichte damit zudecken möchte”
211 Ein eigener Weg – aber nicht konsequent
213 “Am Rande eines Teichs voll tiefer Gedanken”
216 “hatte über seine Fantasie einen dünnen Nebel gezogen”
226 “Oft denken wir stolzen Sterblichen, daß wir es sind, die anderen gefallen, da sie es doch eigentlich selbst sind, die sich in uns gefallen” Tabakdose mit Spiegel
227 Seufzer von weiter unten
239 “daß die ganze Begierde wird sterben müssen”
240 Wilde Jagd der Phantasie
240f Sophist wirbt mit sophistischen Mitteln für Sophisterei
247 “Das Essen muß wenigstens gut zubereitet seyn, wenn es hinuntergehen soll.”
250 sie reisen auf Empfindungen aus, wir bleiben zuhause und versuchen etwas Gedachtes zu machen
254 In ein Bordell!
272 Sache tun: ok, Sache nennen: erröten etc.
274 Anforderungen an Plot /Narr.
284 Sex und Gesellschaft (Rath an die Jünglinge)
293 “denn mein Geld ist beinahe alle”
299 daß eine brennbare Fantasie uns alle Tugenden mitteilen kann

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13. 6. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

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swan 1

Mein Mann fehlt mir, es ist Spannung in der Luft. Lasst mich über Wimpern schreiben, wie sie mir auffallen, wenn ich am Rücken am Wasser liege, die Sonne zu grell für mich, aber ich überlebe darin. Wimpern, etwas verklebt, etwas blond, zu verfranst, relativ nah. Von hinter denen heraus zu schauen etwas Radikales zu haben scheint. Sie wirken wie Balken, Trägerbalken eines Provinztheaters, das macht das Licht.

licht

Mach erst neue Lieder, sagte der Lichttechniker von Element Of Crime, wenn die alten verbraucht sind. Meine Freunde sitzen in ihren Städten und ich wechsle mich mit ihnen ab. Ein Fuß wächst dem anderen nach. Meine Beine sind kurz, aber immerhin kommen sie am Boden an.

leg length

We’re all so paranoid when we dive a little deeper into the dark and cold

13. 6. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

Ich stand auf und ich sagte “Hey”. Sie waren weggegangen und hatten neben meinem schlafenden Körper eine nette Notiz hinterlassen. Die war so nett, von so riesigem Charme, dass ich voll Freude war, obwohl ihre derart überstürzte Abreise eine große Bresche geschlagen hatte. Die Abreise hatte etwas mit dem beschissenen Film über Joe Strummer zu tun, den wir abends zuvor im Moviemento angesehen hatten, im Studio 3, schwitzig wie eine Vorhölle (Das einzig Gute am Film, sagte Matt, waren die Previews der anderen Filme.), aus der Carla durch Jucken überzeugt war, namenloses Ungeziefer mitgenommen zu haben, von welchem durch Waschmaschine bereinigtes Gewand ich jetzt in der Beiden Abwesenheit aufhängte. Dabei hörte ich den Podcast, den mein Verlag aus einem Gespräch mit mir geschnitten und online gestellt hatte. Mein Verlag erinnert mich an eine liebe, aber manchmal hoffnungslos peinliche Tante, die in ihrer Jugend mal der Dorfschwarm war und um die sich immer noch eine Riege gealterter Herren scharen, die alles für sie tun würden. Ich kriege Bonbons und höre mir ihre Plattensammlung durch. Immerhin muss ich zugeben, offenbar habe ich alles genau so gesagt. Offenbar sediert und unter Drogen, maulfaul und schlaftrunken und ungefähr zwanzig Jahre jünger als jetzt. Ein anderes Mal lese ich in der Zeitung nach, was ich nicht gesagt habe. Journalisten sollten T-Shirt-Aufschriften tragen, die einen warnen: “Bitte hier Schreibtempo sprechen”. Oder alles wiederholen. Man muss aber doch immer mehr Leute erreichen, damit die alten Schmähs sich als weiterhin funktionstüchtig erweisen. Ich will um keinen Preis Kunst machen. Bis in einem Tagungsband aus Kassel über Wezel (1995, sie stecken alle noch drin, die gesamte Editionsgeschichte verdankt sich den Nachdruck-“Möglichkeiten” der DDR-Verlage) die Herausgeber, ranzig präzise Gesellschaftsanalysten mit Ritornell-Pointen am Schluss von jedem Absatz, schreiben, Kunsthochschulen sollten Kunstverhinderungshochschulen sein. Das ist nicht einmal unsympathisch, nur kommt man, wenn diese Art von Dialektik einreißt, nicht einmal in der Wüste mehr aus.

abreise

Am Freitag gingen wir, nachdem wir Carla vom Hauptbahnhof abgeholt hatten und bei Sarah Wiener eine überteuerte Gurkensuppe verspeist hatten (sie dachten, ich mache einen Scherz, da holte ich wirklich Schwänze von Langusten aus dem Boden der Suppe herauf), zum Schlachtensee in Unterwäsche baden. Am nächsten Tag (Samstag) gingen wir zur Müggelspree baden, Carla machte mit Matt Delphintricks, ich schaute mir die Gegend an, die Blasmusik vor dem Fabriksgelände am anderen Ufer, die Weltenbummler auf der pseudofinnischen Hausbootterrasse, die Haifischattrappen mit den Schwimmhilfen, die mit nur einem Arm durch den Tunnel-unter-der-Spree zur Mutter rannten. Am Sonntag gingen wir in die Dahme und schnitten uns die Fußsohlen an den Resten der Bierflaschen. Am Montag fuhren wir, auf Viktors Empfehlung, zum Wandlitzsee. Matt fragte den Kassier der Badeanstalt, der sagte: “You go here around the Eck, there is wild See, no Baywatch, open 24/7.” Wir ekelten uns im Seichten vor einer Alienlarve und saßen am abgemähten Ufer auf Nacktschnecken, es war genauso wie am Strand. Am Dienstag (gestern) fuhren wir zum Wannsee, S-Bahn-Station Wannsee. Wir saßen unter einer Linde, es fing zu regnen an. Eine mittelalterliche Frau in orangenen Caprihosen aus Synthetikstoff ging auf und ab und redete mit ihrem Plüschhusky. Die schiefgewordene Promenadenlampe flackerte vor dem geparkten Ausflugsschiff. Matt fing wieder an, Knutwitze zu machen. Carla ging zum Ufer und machte Fotos vom Wasser für uns. Ein knuddeliger weißer Fleck sollte einen toten Fisch darstellen. Wir beschlossen, die Anfahrt genügt für einen Badetag. Gegenüber dem S-Bahn-Café war Tangokurs mit Männerdefizit. (Große Frauen und kurze Männer? fragt Matt. Nein, anders, sagt Carla, viele Frauen, nicht so viele Männer, die Frauen müssen mit einander tanzen. Meine Beine sind kurz, sagt Matt, aber immerhin erreichen sie den Boden. Carla fragt mich, ob er das zum ersten Mal sagt. Witze sind wie Wein, sage ich, sie kriegen, wenn es gut geht, mit den Jahren eine gewisse Tiefe und werden interessanter.) Heute fahren wir zur Endstation der U6, Alt-Tegel, und schauen, was uns dort erwartet. Vorher muss ich noch in den Hahn, und lebendig wieder raus. Ich für meinen Teil gebe keine Statements mehr ab. Man steigt nicht zweimal in dasselbe Fettnäpfchen. Doch in den Schlaf, ja.