The past of the future

30. 5. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

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22. Mai. New York- Montreal.

Ich sitze in einem Flugzeug von New York nach Montreal, und während ich langsam einschlafe denke ich an die fünf Tage, die ich in New York verbracht habe. In meinem Kopf tauchen die Erinnerungen auf wie Bilder eines Fotoalbums.
Foto 1: Ich und ein Eichhörnchen an der Sonne liegend im Central Park.
Foto 2: Gebäudeteile von Gordon Matta Clark im Whitney Museum.
Foto 3: Eine Gruppe lateinamerikanischer Folkloremusiker, Flöte spielend auf dem Union Square vor dem Hintergrund riesiger Werbeflächen von Nokia.
Foto 4: Ein Mädchen, mit seinem Stiefel auf den Kopf eines Jungen einschlagend, bei einer Straßenschlacht in Soho.
Foto 5: Sich kämmende und schminkende Kinder und Jugendliche vor dem Auftritt in einem Musiktheater, das in der 4. Etage eines Apartments aufgeführt wird.
Foto 6: Ich, heulend, in eine Decke eingewickelt, im Hintergrund Stefan, unscharf, wie ein Roboter dreinschauend.
Foto 7: Ein durch Lexington Av. laufender, als Tiger verkleideter Hund.
Foto 8: Ich, mit den Händen auf dem Tisch, vor einer Fortuneteller sitzend.
Am Sonntag, als Stefan und ich auf dem Weg zum Supermarkt waren, kamen wir bei einer Fortuneteller vorbei, an deren Tür ein großes Schild mit der Aufschrift ¨special $10¨ hing. Sie war gerade dabei, einem kleinen fünfjährigen Mädchen den Schuh anzuziehen als wir hereinkamen und erklärte uns, für 10 Dollar bekäme man eine Persönlichkeitsanalyse. Ich sagte ihr, dass ich meine Persönlichkeit schon so einigermaßen kennen würde (sie verursacht mir schon genug Probleme), aber etwas über meine Zukunft erfahren wolle. Meine Zukunft, sagte sie, koste 25 Dollar. Meine Zukunft sei sehr teuer, sagte ich, worauf sie 20 sagte. Dann habe ich ja gesagt.
Ich setzte mich also an ihr winziges Tischchen und sie sah sich meine beiden Handflächen an. Stefan kniete neben mir auf dem Boden (es gab sonst keine Stühle) wie ein magerer Bodyguard.
Die Wahrsagerin legte ihre Hand in die meine und sagte, ich sei sehr kreativ, sehr selbstständig, ich sei mein eigener Chef. Meine Hand zitterte in der ihren. Anschließend sagte sie, sie sehe viele Reisen und dass ich woanders hinziehen würde. Und ich dachte, dass das durchaus wahrscheinlich war, sagte aber nichts. Dann sagte sie “Du wirst an einem Ort mit Palmen leben¨ . ¨Palmen?¨ sagte ich und fing an zu lachen. Sie fragte, ob ich denn nicht daran denke nach Florida oder Hawaii zu gehen, aber als ich mir vorzustellen vesuchte, im Bikini Theater zu machen, sagte ich nein, das sei unmöglich.
Schließlich sagte sie, am 19. oder 20. September würde sich mir eine große berufliche Chance bieten dank eines Mannes mit Namen KEVIN. Kaum hatte sie Kevin gesagt, fragte sie mich, ob Stefan mein Freund sei und bat ihn den Raum zu verlassen. In dem Moment überkam mich etwas Angst; ohne meinen Bodyguard in der Nähe war ich der NewYorker Hexe ausgeliefert.
Als Stefan den Raum verlassen hatte, sagte sie mir, dass da jemand aus meiner Vergangenheit sei, der mir Briefe schreibe, jemand, der wieder an meinem Leben teilhaben wolle. Jemand, dessen Name mit J oder G anfing. In dem Moment hätte ich am liebsten geweint. Mein früherer Freund, dessen Name mit G anfängt, hatte mir gerade lange und wunderschöne Briefe aus Berlin geschickt. Daraufhin wurde ich ganz still. Sie sagte: “Hab keine Angst, die Vergangenheit bleibt in der Vergangenheit”, worauf sie mir gleich einen energetischen Stein ( 30 Dollar) verkaufen wollte und hinzufügte, dass mir das Tarot (40 Dollar) helfen könne, Manches besser zu verstehen. Aber ich lehnte ab und sagte es sei schon gut so.
Als ich die Brieftasche aufmachte, um zu bezahlen, sah ich, dass ich nur 10 Dollar hatte. Also ging ich raus auf die Strasse und fragte Stefan, ob er die Hälfte meiner Zukunft bezahlen wolle. Er sagte ja und gab mir weitere 10 Dollar.
Später, als ich Houston Av. entlanging, dachte ich, ich würde gerne ein Stück über Fortunetellers schreiben, das ¨ The past of the future¨ heißen und etwas über die Vergangenheit dieser Frauen, die in der Zukunft der Anderen lesen, erzählen sollte.