Die gesamte Apotheke

19. 9. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

mist
Es ist ganz merkwürdig mucksmäuschenstill in Wien, und der Flieger startete ein paar Zentimeter vom Boden wieder durch wegen zuviel Seitenwind. So mach ichs am Fahrrad auch, trotzdem war es ein besonders erhebendes Gefühl, was für lässige Tricks so ein Passagierflugzeugpilot aus dem Ärmel schütteln kann, und wie höflich und zurückhaltend die Insassen mit ihrer Panik haushalten. Wahrscheinlich war ein Murmeltier auf der Fahrbahn, denkt man sich probehalber, vorsichtig, oder die Räder waren nicht richtig eingerastet, wir probierens einfach noch einmal mit Schwung, einem kleinen Schwung über den Neusiedlersee, der ja so ziemlich das Schönste ist, wo man in Österreich Schlaufen drüber machen kann, oder war nur die Batterie beim grünen OK-Knopf leer, immer wahrscheinlicher wird es heutzutage, dass das Problem, das dir gerade im Weg steht, ein fiktives ist. Aber Rotz ist echt und ich brauchte dringend Taschentücher, und den Gedanken an eine Entführung mochte ich gar nicht, auch, weil Bagdad genauso wattig entfernt wäre wie Wien, nur noch ein wenig mehr und ich hätte kein Fahrrad und müsste mich höflichkeitshalber verschleiern. Oder erschleiern? Darauf wollte ich hinaus, und dieser Anlauf ging auch, ohne den Seitenwind vom latschigen Notizbuch, wesentlich besser als der Rohentwurf. Denn, so erklärte mir Papenfuß vorgestern vom Nebentisch, wenn du hier (also Berlin) bist, musst du “erkältet” sagen, während sowohl im Nord- wie auch im Süddeutschen Raum der Ausdruck “verkühlt” üblich ist. Ein seltsames Verteilungsphänomen, das sich auch bei einigen anderen Wörtern beobachten lasse. Wir wundern uns. Bevor ich mich wieder in Storfer stürze, ob der nicht etwas drüber weiß (und das lateinische angehängte -ne befällt mich hinterrücks wie Polypen) versuche ich das mal alleine zu erklären. Schließlich habe ich meine Schwester gestern beeindruckt, indem ich ihr die (sie: “grauslichen”) “Gummifühler” am Seitenrand des Fahrradreifens als Reste vom Gießvorgang erklärt habe. Wobei ich die andere, nicht von mir stammende Theorie verschwiegen habe, dass man die beim Trinken verlorenen Gehirnzellen unter Umständen durch Orgasmen von anderen zurückgewinnen kann*, was wohl nur eine spezifische Untertheorie ist von Tonis Lebensregel, man solle schauen, dass man in einem ausgewogenen Verhältnis alle registrierten Klassen von Sünden sündigt. (Florian: “Ist das so was wie Zen?” Toni**: “Ja, isset.”)
Eine Mischung aus Negativität und Understatement stellt also die Differenz dar, die Verkühlung von Erkältung unterscheidet. Außerdem, das jetzt rein subjektiv, wirkt verkühlt irgendwie geschleckter, stromlinienförmiger (so wie graues, nach hinten gegeltes Strizzihaar), fataler. Nach der Vorsilbe “ver-” gibts kein Zurück mehr. Während erkältet statisch ist und eigentlich keinen Prozess mitdenkt, bloß einen ins Unendliche abstrahierten Zustand, und das ist vielleicht unerklecklich. Das kann Wochen und Monate dauern! Und obwohl durch die Einmischung der protestantisch/katholisch Dichotomie das Geographische etwas durcheinanderrutscht, spüre ich genau: Verkühlung ist Erbsünde, Erkältung ist eigene Schuld. Bei mir wars etwas dazwischen (halb zog es sich, halb stank ich ab): Das Jonny Freedom Konzert in Cottbus. Jonny war Vorgruppe von der Fun-Metal-Band HNO, und da darf man sich nicht wundern eigentlich wenn die Bazillen wie 99 Luftballons durch die Jugendclubhalle schwirren.

*Amalgamierung von Theorien, die mir von Ulli respektive Frank kolportiert und von Rufen des Erstaunens unterbrochen wurden darüber, dass man so viel Energie investiert in diese Landschaftsventilatoren in Brandenburg
**Genie und Kellnerin im Hahn