403 v. Chr.

12. 8. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Ununterbrochen denke ich über Die Bakchen von Euripides nach, die ich neulich in Split gesehen habe. Zum Teil deshalb, weil alle Beteiligten meine Freunde sind, zum Teil aber auch deshalb, weil Petercol verantwortlich war für die Raum- und Lichtgestaltung, so dass ich von Anfang an in den ganzen Prozess eingetaucht war – ob als zufällige Zeugin von Verabredungen oder als Beraterin und Beichtmutter oder als aktive Teilnehmerin an den Diskussionen, die kurz vor der Premiere um diese Vorstellung entflammt sind.

Dieses Ereignis kann man einfach auf das nebulöse Denken und die engstirnige Weltanschauung der Leitung eines Festivals mit provinziellen ästhetischen Wurzeln reduzieren, in dessen Rahmen Die Bakchen gespielt werden sollte. Die Leitung war von Anfang an verängstigt aufgrund der ideologischen Haltung der Autorengruppe. Euripides Text aus dem Jahre 403 v. Chr., in dem jedes scheinbar gerechte Urteil in einen blutigen Akt verwandelt wird, was erneut zu einem scheinbar gerechten Urteil führt, handelt beinahe illustrativ auch von den Kriegsverbrechen, die sich – natürlich im Namen der Gerechtigkeit –1993 in Split abgespielt haben. Die Autoren wollten mit den Namen der damaligen Opfer und unter Verwendung einiger Fernsehdokumente auf diese lokalen Ereignisse anspielen. Doch in einer Atmosphäre, die geprägt war von Missverständnissen, Misstrauen und ständigen Konflikten, erschien auf der Website des Festivals einen Tag vor der Premiere ein offizielles Schreiben, in dem bekannt gegeben wurde, dass die Premiere nicht stattfinden würde. Danach spielte sich der reinste Zirkus ab: Fernsehen, Zeitungen, Rundfunk, Livesendungen in allen lokalen Medien, angekündigte Titelseiten in den wichtigsten Printmedien, ein ununterbrochenes Updaten der Entwicklung dieser Krise in allen Internetportalen usw.

Mein Freund, der Regisseur, bestand darauf, dass man den Fall bei seinem wahren Namen benennen sollte. Es sollte bekannt gegeben werden, dass es um sich ein politisches Verbot handelt, wobei ihm der bombastische Effekt, den diese Behauptung erzielen würde, durchaus bewusst war. Und tatsächlich: Binnen einiger Stunden wurde die Spitze des Staates aktiv und verlangte von der Leitung des Festivals, eine Pressekonferenz abzuhalten, auf der deutlich gemacht werden sollte, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt habe. Damit sollte dem Publikum, den Künstlern, aber vor allem den Leitern jener Kommissionen, die den Beitritt Kroatiens in die EU begleiten, deutlich gezeigt werden, dass Kroatien imstande ist, sich mit den Sünden aus seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, und zwar sowohl auf dem Gebiet der bürgerlichen wie auch der künstlerischen Freiheiten. Die Positionen der Macht hatten sich radikal verändert. Nun bestimmten die Autoren den Rahmen, in dem sich die Vorstellung abspielen sollte. Sie zögerten nicht, den ästhetischen, ethischen und politischen Ansichten der Festivalleitung gegenüber ihre Verachtung zum Ausdruck zu bringen. Sie verlangten Entschuldigungen und Kündigungen, und einige Medien begannen zu mutmaßen, dass es sich eigentlich um einen Marketingtrick handelte.

Während all dieser Ereignisse versuchte ich, meinem Freund zu erklären – die Medien stellten ihn als kontroversen und radikalen Regisseur dar (was er tatsächlich auch ist, aber es sind tiefgreifende Fragen, die er an das Medium Theater und an die Hierarchien stellt; es handelt sich nicht um kleinbürgerliche Verwunderung, die man meist auf Unwissen reduzieren kann) -, dass er der verführerischen Kraft der neuen kontroversen Etikette nicht erliegen solle, die ihm das Zurückweisen des angebotenen Waffenstillstandes seitens der „rechts“ des-orientierten Festivalproduzenten und die Verschiebung der Vorstellung nach Maßgabe der politischen Zensur eingebracht hätte. Ich habe ihm geraten, sich mit seinen eigenen Regieproblemen zu befassen, damit dieses durch die Medien aufgebauschte Ereignis seiner Arbeit nicht noch mehr Schaden zufügen würde. Denn all das würde seine Arbeit mit einem Spektakel anstelle von Mitgefühl kontextualisieren. Schließlich würde dieses Aufbauschen die Codes der schwer erreichbaren künstlerische Kontroverse durch die Codes der leicht erreichbaren politischen Kontroverse ersetzen.

Und dann?

Eine wunderbare Vorstellung, zumindest meiner Meinung nach.

Die Bakchen werden auf einem Schulhof gespielt, während aus den leeren Klassenräumen die Klänge des Hitchcock-Films Das Fenster zum Hof herunter klingen. Der Text der Tragödie ist auf den Monolog des Boten reduziert, der von Schauspieler zu Schauspieler wandert, wobei seine emotionale Spannung, die semantischen Akzente und natürlich die Modelle der Ausführung verändert werden. Die Schauspieler treten radikal aus der Sphäre des Sprechens heraus in die Sphäre der reinen Aktion, indem sie den Text über den Verlust der Kontrolle in einen Akt des Verlusts der Kontrolle verwandeln, indem sie jeder eine Flasche Wein leeren, wonach sie – betrunken – weiterzuspielen versuchen.

Warum zähle ich all das auf? Die Bakchen waren zur wichtigsten Nachricht avanciert, ohne dass vor der Vorstellung oder danach auch nur eine einzige Meinung über die Vorstellung selbst, über ihre Dramaturgie, über die Interventionen des Regisseurs und über das Konzept ausgesprochen wurde. Paradoxerweise wurde die Vorstellung gerade durch die Aufmerksamkeit zensiert, die sie aus dem Bereich der Kunst in den Bereich der Kultur katapultiert hat, das heißt in den Bereich des Spektakels und eines politisierten Glamours. In dieser neuen Domäne fand die Vorstellung keine geeigneten Kritiker und keinen diskursiven Code, der für ihr Verständnis notwendig gewesen wäre. Unbeabsichtigt. Völlig unbeabsichtigt. Indem sie um die eigene Sichtbarkeit kämpfte, löschte sich die Vorstellung vollständig aus. Victor Klemperer schreibt über das Heldentum und sagt, dass der Heroismus am reinsten und bedeutendsten ist, je leiser er sei und je weniger Publikum er habe, je unrentabler er für den Helden selbst sei und je weniger dekorativ. In diesem Sinne hatten die radikalsten, heldenhaftesten und mutigsten Segmente dieser Vorstellung kein Publikum.

Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken.

Derartige Ereignisse führen mich zurück zu meiner eigenen Angst davor, dass man mich als politische Autorin etikettieren könnte, da das (neben ideologischen Problemen) auch den Mythos der politischen Provokation mit sich bringt, dem ich ununterbrochen zu entgehen versuche, weil ich weiß, dass die Radikalität irgendwo anders ist, in den unpopulären Entrückungen der eigenen Sprache, des Ausdrucks, dort, wo das Risiko unbemerkt bleibt. Wenn man mich fragt, ob ich politisch radikal sei, antworte ich deshalb, dass ich es nicht bin. Wenn man mich fragt, worüber ich denn dann schreibe, antworte ich, dass ich über die Liebe schreibe, über den Massentourismus und über einige notorische Themen. Wenn man mich fragt: Waren Sie nicht die, die Bombenfrau geschrieben hat, ein Stück darüber, was sich im Kopf einer Selbstmordattentäterin in den letzten Minuten, bevor sie die Bombe zündet, abspielt, antworte ich, dass ich eigentlich ein Stück darüber geschrieben habe, was sich in meinem Kopf abspielt, während ich so tue, als würde ich das schreiben, von dem man behauptet, dass ich es geschrieben habe. Dann fragen sie mich, worüber ich denn eigentlich schreibe, und ich antworte, dass ich über das Schreiben schreibe. (Mein Gott, wie dämlich!)

Manchmal ist diese Antwort tatsächlich ein kleiner Selbstmord. Vor allem dann, wenn dann der Kommentar kommt: Wen interessiert das schon?

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer