Asphalt erzählt. Eine Märchenstunde

5. 7. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Hänsel und Gretel: An bestimmten Tagen (d.h.: Es war einmal ein Tag …) sind die ausgestreuten Kappen so viele, als wollte jemand einen Weg damit markieren. Oder die Fläschchen selbst: Sie liegen da – im Gras, auf Asphalt, im Schotter, auf Asphalt – wie Kompassnadeln. Welche Himmelsrichtung zeigen sie an? Was ist ihr Norden? Welche Wege weisen die Kappen? Wohin gelänge er, folgte er ihnen? H&G haben mit Steinen und Brotkrummen einen Heimweg markiert. (Und gewusst und gewollt, dass die Vögel das Brot fressen. So wie K niemals das Schloss erreichen wollte.) In welchem Heim endet die Kappenmarkierung? In welcher Obdachlosigkeit? Oder: In welchem Aufbruch? Welcher Zukunft? – Er geht weiter. Fremden Interpunktionen folgend, fremder Inskription. (Inskription: Er meint es nicht metaphorisch. Er meint es nie metaphorisch. Metaphern sind Dreck.) Oft sind es die gleichen Wege, und doch verändert mit jedem Gang: Neue Details werden sichtbar und alte Zusammenhänge. Gehen (und Sammeln) als Sichtbarmachen. Er geht weiter.

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Stadtmusikanten: Er fotografiert und kontrolliert, er packt den Fotoapparat ein. Er geht weiter. (WEITERGEHEN: Ei was, zieh lieber mit uns fort, etwas Besseres als den Tod findest du überall. – Die Bremer Stadtmusikanten.) Das Verlangen, sich nach den Fläschchen zu bücken, sie einzusammeln und sich nicht länger mit der bloßen Fotografie zufriedenzugeben, wächst. Fotografien sind keine wirkliche Sammlung, denkt er, und im Weitergehen denkt er weiter. Zahllose Fragen, die obligatorische Pragmatik jedes Sammelns betreffend: Was genau sollte er sammeln? Nur die Fläschchen? Nur die ganzen Fläschchen? Die Scherben? Die Kappen? Die Verpackungen? Soll er die Fläschchen angleichen? Von allen die Kappen abschrauben? Von allen die Etiketten lösen? Die schmutzigen säubern? Zuletzt nur ein übrigbleibendes glänzendes Braun sammeln? Und vor allem: Wo soll er sie sammeln? Welcher Hort wäre Sternen angemessen? Er drückt auf den Auslöser und geht – ohne zu kontrollieren, den Apparat in der Hand – weiter, um nicht mit weiteren Fragen konfrontiert zu werden.

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Rotkäppchen: Er sieht sich um, ob niemand sich nach ihm umsieht. Er fühlt sich sicher, bückt sich, d.h. er geht in die Knie und hebt die rote Kappe auf. (Jedes Sammeln: Aufhebung, hegelianisch: negare, conservare, elevare.) Ein kurzes Prickeln, Weitergehen. Wie bei den ersten Fotografien sind ihm die ersten Griffe nach den Kappen peinlich. Er glaubt sich bloßgestellt, empfindet Scham: Gehen (und Sammeln) als Sichtbarsein. – Er hat sich entschieden: Neben den Fotos sammelt er die Kappen ein. (Pragmatik: nur die herumliegenden Kappen, er schraubt sie nicht eigens von den Fläschchen.) Allein die Frage nach dem Hort hat er noch nicht geklärt. Eine pragmatische Frage, denkt er, die zugleich über alle Pragmatik hinausgeht: Nur eine versteckte, d.h. nur eine gehortete ist eine wirkliche Sammlung. Der geheime Hort ist ebenso wichtig wie die Sammelobjekte selbst, erst der Hort hebt wirklich auf. Vielleicht, denkt er, genügen ihm darum die Fotografien nicht. Ihre Virtualität macht alles zunichte. Eine Festplatte ist kein Hort, allenfalls eine Banalität. Anders wäre es, wenn er die Fotos entwickeln ließe, sie in einem Album sammelte. Einem Buch, dem Hort schlechthin. Texte ließen sich dazu verfassen, Bildunterschriften, Randnotizen.