Verdoppelung (2): der Andere groß A

14. 8. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

(powered by J. Lacan & J. P. Sartre)

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Das Geschlecht wechseln, wiederholt er für sich, als könnte er Gefallen daran finden, sowie er Gefallen an der Tag-für-Tag-Disziplinierung des Tagebuches finden könnte. (Wenngleich: Indem er sie datiert, entwertet er die Gedanken. Denkt er: 22.07.15) Sie also, denn der Inbegriff des Tagebuch-Ichs ist ihm – pace Kafka & Che – das von Anaïs Nin. (Wenngleich: Das unverzeihliche Ungleichgewicht in der Behandlung H. Millers und A. Artauds …) Außerdem reiht C. v. Braun das Tagebuch der Stillen Post ein, dem weiblichen Subtext zu den offiziellen Narrativen des Patriarchats. (STILLE POST: Es gab immer schon eine spezifisch »weibliche« Art von Nachrichtenkette, die aus Familiengeheimnissen oder dem Unsagbaren bestand. Vermutlich deshalb, weil den Frauen die offiziellen Kanäle der Geschichte so lange versperrt blieben. – Christina von Braun, Stille Post.) Und welche Post, denkt er, könnte stiller sein, als die leere, d.h. leergetrunkene und tagegebuchte Flaschenpost. (Wenngleich: Sofort verwirft er den Gedanken, er schreibt keine Gedichte und kein Tagebuch. 22.07.15) Er randnotiert nur, und einen Blog spricht man weder mit Du noch mit Sie an. Der Blog richtet sich an die anderen, die es geben mag oder nicht, richtet sich, zuletzt, an den großen Anderen. Darum, d.h. weil der Blog schon vorweg auf Publizität (groß P) ausgerichtet ist, darum also kann er auch weiterhin auf das Ich verzichten. (Es gibt kein Du, es gibt kein Ich: Es gibt nur Selbstinszenierung im großen Symbolischen des großen Anderen.) Er kann weiter von ihm sprechen. Warum auch immer. Und wer immer er sein mag. Und wenngleich: An guten Tagen – oder an schlechten – denkt er weiter an sie …

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… denn er begegnet ihr immer wieder. Er weiß nichts über sie und gibt vor, alles über sie zu wissen. Er hat sie beobachtet, er hat sich Gedanken über sie gemacht, er hat über sie geschrieben. Er hat sie F genannt (weil: Frau, d.h. weiblicher Subtext) und nennt sie weiter F (weil: Strg-F). F ist dick und wird kontinuierlich dicker. F hat kurze Haare, kaum einen Zentimeter lang. Bei schnellem Hinsehen (und noch schnellerem Wegsehen) könnte man ihre Frisur für eine gestrickte Haube halten, aber F hat keine Tarnkappe. (Nur eine offenliegende Seele.) Und F ist allein, seit F‘ fortgegangen ist. (Von einem Moment auf den anderen. Zigarettenholen …) Seitdem F‘ fort und F allein ist, gibt es kein Du mehr, an das sie sich richten könnte, nur noch die anderen: Den Anderen, vor dem man sich verstecken muss und vor dem es kein Versteck gibt. (Selbst wenn man eine Tarnkappe hätte.) Seitdem F‘ fort und F allein ist, nennt man sie noch öfter Tourette. Zu Recht, denkt er, könnte F denken, weil jetzt nur noch der Schrei ihr eine Möglichkeit bietet, sich gegen den Anderen zu wehren. Und das Schweigen des Anderen danach: nachdem F geschrien hat, nachdem sie das letzte Fläschchen ausgetrunken hat. Momentan kann F dann die Stimme von F‘ in diesem Schweigen hören: in der absoluten Stille des Mondaufgangs.

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(DER ANDERE: Der Diskurs über den Anderen beschäftigt Philosophen, Soziologen, Anthropologen schon seit langem. Und trotz aller Beteuerungen, dass der Andere auch die Andere meint, fällt es mir meist schwer, eine weibliche Person vor Augen zu haben, wenn ich eine Abhandlung lese, in der über den Anderen nachgedacht wird. Und so bleibt auch der Andere, den wir in unserem Spiegelbild nicht erkennen wollen, obwohl er uns in so vielem gleicht, für mich männlich konnotiert. – Barbara Frischmuth, Das Leben der Anderen, 21.03.15) D.h., denkt er, vielleicht ist er ihnen der Andere. Den beiden Mädchen. F. All denen, über die er die Macht des Symbolischen ausübt, indem er notiert (= ausliefert), all denen, deren Möglichkeiten er tötet und deren Hölle er ist. (Nur um nicht selbst Objekt eines Anderen sein zu müssen.) Vielleicht gilt ihre Verzweiflung ihm, ihre Schreie, ihr Wegducken und ihre Flucht an Ort und Stelle. Oder: Er nimmt sich, wieder einmal und wie immer, zu wichtig und ernst. Oder: Es ist sowieso alles ganz anders, als der Andere denkt. Oder: Es ist nichts, überhaupt nichts, weil immer nichts ist.