Verdoppelung (1): geteilte Einzelzelle

14. 8. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Der Kinderspielplatz in einem öffentlichen Park, abends. Die beiden Mädchen sitzen auf dem Begrenzungsmäuerchen des Sandkastens. Sie rauchen schweigend. Der Rauch, der aus ihren Mündern aufsteigt, verbindet sich über ihren Köpfen. Zwischen ihnen steht eine Zweiliterplastikflasche. Eines der Mädchen öffnet einen roten Stern-Karton, dann ein Fläschchen nach dem anderen und leert den Inhalt in die Plastikflasche. Die braune Flüssigkeit ist kaum zwei Zentimeter hoch. Sie hält die Flasche hoch, schwenkt sie, betrachtet sie skeptisch, als könnte sie etwas ändern. – Das Bild der Kompassnadel ist falsch, denkt er, die Fläschchen folgen keiner vektoriellen Logik und keiner magnetischen Ordnung: Sie werden umhergeschleudert, sind den Kontexten ausgeliefert. Sie sind Flaschen, getrieben von Meereswellen mitten in einem Binnenland, und sie sind Post, ohne jegliche Botschaft. (FLASCHENPOST: Das Gedicht kann eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden. Gedichte sind unterwegs: sie halten auf etwas zu. Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. – Paul Celan, Rede zum Literaturpreis der freien Hansestadt Bremen.)

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Das Mädchen nimmt einen grauen Gummipfropfen mit einem Loch in der Mitte aus ihrer Umhängetasche und presst ihn in die Flaschenöffnung. Sie nimmt eine weiße Handfahrradpumpe aus ihrer Umhängetasche und steckt das Ventil tief in die Aussparung des Pfropfens. Sie beginnt zu pumpen, während das andere Mädchen das Schlauchventil in den Pfropfen presst. Sie pumpt einige Male, prüft dann den Druck in der Flasche und pumpt weiter. Das Knistern der sich ausdehnenden Flasche wird von der einsetzenden Dunkelheit verstärkt. Das Mädchen löst den Pfropfen aus der Flasche und führt die Öffnung, aus der weißer Rauch aufsteigt, schnell an ihren Mund. Sie inhaliert den Rauch tief, ohne zu husten, drückt dabei die Plastikflasche mit beiden Händen zusammen, bis kein Rauch mehr darin enthalten ist. Dann pumpen sie die Flasche wieder auf und das andere Mädchen inhaliert den Alkoholdampf. – Auch das Tagebuch, analog, digital, ist Flaschenpost, auch das Tagebuch richtet sich an ein Du. (Warum, fragt er sich, ist jeder mit seinem Tagebuch sofort per Du? Warum siezt niemand sein Tagebuch?) Ein Pseudo-Du, mit dem er nur sich selbst ansprechen könnte, ein Umweg, auf dem er sich darüber hinwegtäuschen könnte, dass es nichts Offenstehendes gibt und die Wirklichkeit unansprechbar und unaussprechlich ist.

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Die Flasche ist alles, was die beiden Mädchen miteinander verbindet. Eine gerillte Öffnung aus Plastik, an der sie abwechselnd nuckeln, ohne Freude zu empfinden. Der Rausch, der sich nur langsam einstellt, ermüdet sie mehr, als dass er sie belebt. Sie sprechen nicht miteinander, nur hin und wieder sagt eine von ihnen einen Satz oder auch nur ein einzelnes Wort, das unbeantwortet in die abgetretene Wiese fällt. Die fortgeschnippten Zigaretten zeichnen gleichmäßige, orange Bögen in das Schweigen. Beim Aufprall zerfällt die Glut in einzelne Punkte, die unbeachtet verlöschen. Sie rauchen die Flasche leer, ohne mehr darin zu finden, als ein Gefühl lahmen Schwindels. – Aber, sagt er sich, er spricht kein Du an. Und er spricht von sich selbst immer noch in der dritten Person. Vielleicht, weil das Ich das Erbe ist, das er nicht antreten will: heritage denied. Vielleicht, weil er sich nur so zum Voyeur werden kann. Und vielleicht sollte er auch noch das Geschlecht wechseln. Vielleicht sollte er von sich als ihr sprechen, d.h. vielleicht sollte längst schon nur noch von ihr die Rede sein.