all the world’s a cage (Gefangenentrilemma)

27. 9. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Circulus vitiosus (?): Oder das Stadtgut und die Eidechsen und die Menschen verfangen sich in den Zäunen und den Netzen und den Gittern. Es gibt so viele Gitter, denkt er, in dieser und in den anderen Städten. Also muss es Vieles geben, das so wertvoll und so schön ist, dass man es wegsperren muss. Oder so böse und so schlecht. – Manche Gitter sind eindeutig. Beim Gang entlang der Milchstraße kommt er auch am Gefängnis vorbei: Von einem bestimmten Standpunkt aus, wenn er den Kopf hebt, blickt er in ein unentwirrbares, endloses Knäuel aus Nato-Draht. Kein Vampir wäre in der Lage, das Knäuel zu lösen, denkt er, aber (ein Blick in die Vergangenheit der Zukunft) der ganzen Welt könnte man damit eine Dornenkrone aufsetzen, entlang der Territorialmarkierungen und noch weiter. (Gefängnis: Gefängnis, d.h. Welt.) Andere Gitter verbergen sich. Wie die am Bahnhof, an den Bänken in der Halle und den Bahnsteigen. Es sind nicht viele Stäbe nötig, nur einszweidrei pro Bank. Senkrechte Stäbe, d.h. Armlehnen, die die Bank der Länge nach segmentieren. Sie genügen, um denjenigen, die keine gültige Fahrkarte haben, den Schlaf unmöglich zu machen und in die -losigkeit zu stoßen. (Gefängnis: Schlafentzug.) Die feinmaschigsten Gitter trägt er im Kopf. Sie schließen seine Denkmöglichkeiten ein: Schon im Rastern der Wahrnehmung sperren sie ihn vom Wahrgenommenen ab. Und in ihm selbst entfremdet er es bis zur Unkenntlichkeit. Alles versinkt im Super-Max der Individuation und in der Isolationshaft der Autoreflexion. (Gefängnis: Selbstwahrnehmung, Teufelskreislauf Ich.)

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Regressus ad infinitum (!): Der Barkeeper B ist, wie viele Barkeeper, ein Zyniker. An der Theke sitzen zwei Trinker, links außen der Trinker T, rechts außen der Trinker T‘. (Von seinem Platz in der Bar sieht er das Triplett TBT‘.) B, der bemerkt, dass T und T‘ bereits so betrunken sind, dass er ihnen alles erzählen kann, geht zu T und erzählt ihm Folgendes: Du und der andere, ihr habt gestern die Zeche geprellt. Jeder von euch schuldet mir Geld für die Zeche, zusammen, sagen wir, zehn Magenbitter. Ich kann es euch nicht beweisen, aber ich gebe euch beiden die Wahl: Wenn du es abstreitest und schweigst und er ebenso, kann ich nichts tun, aber ich schlage euch heute je zwei Magenbitter auf die Rechnung. Wenn du und er die Zechprelle gesteht, will ich mich milde zeigen und euch beiden nur je vier Magenbitter verrechnen. Bleibt noch eine dritte Möglichkeit: Du verleugnest die Zechprelle und der andere gesteht sie ein. Dann muss er alle zehn Magenbitter bezahlen, und du kommst gratis weg. Umgekehrt, wenn du allein gestehst … du verstehst mich. Also, überlege es dir: Wenn du leugnest, zahlst du entweder zwei oder zehn Magenbitter, wenn du gestehst, entweder vier oder gar keinen. B tippt T mit dem Zeigefinger auf die Stirn. Denk nach. Dann er geht B zu T‘ und erzählt ihm dieselbe Geschichten. T und T‘ sehen kurz nacheinander, wagen es aber nicht, sich auszutauschen, beide sind mit ihrer Entscheidung allein. – Er sitzt weiter an seinem Tisch, beobachtet die Szene: TBT‘. Die beiden sitzen fest und regregieren in der Unmöglichkeit der Entscheidung. Es gäbe noch einen Ausweg, denkt er dann, der alle überraschen würde: Er selbst, stella ex machina, könnte alle Rechnungen begleichen und alle weiteren Lokalrunden werfen. Er könnte reinen Tisch machen – mit sich und der Welt. Oder er könnte um seine eigene Rechnung bitten. Er denkt darüber nach und regregiert in der Unmöglichkeit der Entscheidung.

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Abbruch des Verfahrens (?!): Während in den Körpern jedes Einzelnen der Gruppe beständig die Ruhelosigkeit aufbricht, sitzt er immer – ob Minuten oder den ganzen Tag – am Rand seiner Bank, die Beine übereinander geschlagen, die Arme schlaff nach unten hängend. Nur sein Mund bewegt sich, und er selbst bewegt sich mit den Bewegungen seines Mundes. Er ist Pantomime, führt aber seine Gebärden nicht körperlich, sondern ausschließlich sprachlich aus. Er sitzt da und spricht sein Programm (klassisches Repertoire: Bananenschale etc.). –: Ich will fort von hier. Ich mache mich auf den Weg und schon nach wenigen Schritten stoße ich gegen einen Zaun. Ich bin perplex. Mit meinen Händen taste ich den Zaun ab, es gibt kein Loch darin, keinen Durchschlupf, durch den ich entkommen könnte. Ich versuche, am Zaun nach oben zu klettern, rutsche aber schon nach weniger Metern ab und falle zurück auf den Boden. Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung, zaghaft erst, dann schöpfe ich Hoffnung. Mein Schritt beschleunigt sich, bis ich gegen einen Zaun stoße. Ich taste ihn ab, kein Durchschlupf, der Versuch, ihn zu erklettern, scheitert. Ich drehe mich um neunzig Grad, gehe in die dritte mögliche Richtung und stoße gegen einen Zaun ohne Durchschlupf und Klettermöglichkeit. Ich drehe mich um hundertachtzig Grad, gehe in die vierte mögliche Richtung und stoße gegen einen Zaun ohne Durchschlupf und Klettermöglichkeit. Noch gebe ich nicht auf, noch gibt es eine letzte Möglichkeit, die ich nutzen kann. Dennoch zögere ich, mein Mut sinkt. Langsam stellt sich die Gewissheit ein, dass auch die fünfte Himmelsrichtung von einem Zaun begrenzt sein wird. Schon nach wenigen Schritten werde ich dagegen stoßen und keinen Durchschlupf finden. Endlich ringe ich mich durch. Ich mache einen Schritt und noch einen und noch einen und noch einen