Konglomerat

4. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Der Hort, den er für sich, d.h. für die Kapseln gefunden hat, ist ein Glasbehälter, ein Quader mit abgerundeten Ecken. Bislang, wenn er richtig gezählt hat, sind es 522 Kapseln. Müll, weiter nichts. Ungewaschen und deformiert. (Die zusammengetretenen Kapseln haben die Form von Mündern, und wenn er sie lange genug betrachtet, kann er sie flüstern hören: ein Konglomerat aus Stimmen …) Er sammelt Müll, obwohl er weiß, dass es eigentlich unmöglich ist – Müll zu sammeln, in der Art, wie er es tut, ästhetisch. Das Müllsammeln ist ein rein akkumulierendes und ökonomisches, sein Ziel ist die Auslöschung der Sammelobjekte. (AUSLÖSCHUNG: Akkumuliert wird auch das Unbrauchbare, Störende, Schädliche; und der Zweck dieser Übung ist, es zu vernichten: hinterher muß es weg sein. (…) An der Müllbeseitigung wird ein Zug sichtbar, der für menschliches Wirtschaften insgesamt charakteristisch ist: das Verschwindenlassen. Aufs Ganze unserer Geschichte und Vorgeschichte gesehen, betreiben wir eine Ökonomie der Vernichtung. – Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch.) Der Sammler widersetzt sich der Auslöschung, der Sammler ist Fetischist: Er entzieht die Dinge dem Warenkreislauf und immobilisiert sie im Privaten. (UNVERÄUSSERLICH: Fetische und Sammlungsobjekte sind im Augenblick, wo sie Teil einer Sammlung oder Objekt einer Obsession werden, der Waren- wie Gabenzirkulation entzogen. Sie werden eifersüchtig behütet und bewacht. – Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur.) Der Sammler (als Fetischist) gelangt zu einem Gebrauch der Dinge, der kein Verbrauch ist. (Cf. ibid.) Das Ding des Sammlers verzehrt sich nicht und wird nicht verzehrt: Phönix und Kopfgeburt und Dauerhäutung. Das Ding (als Fetisch) beharrt – auch dann wenn es eigentlich Müll ist und von anderen zum Chor aus Flüstern zertreten wird.

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Und Müll wird getrennt – nach seiner materiellen Beschaffenheit, d.h. nach seiner substanziellen Herkunft, darum hat Müll nur noch Herkunft und keine Zukunft. Dagegen der Müll, denkt er, der illegal und querbeet deponiert wird, behält einen Ausblick auf Zukunft, weil in ihm noch die Schönheit widerscheint. Nur als Konglomerat verharrt Müll in seinem wilden Denken: Gleichzeitigkeit der widersprüchlichen Materialien, Nischen des Diversen und verwirrende Ästhetik der Unschärferelation. Müllkonglomerate sind der abgestoßene Eidechsenschwanz, verrückt, verwegen, verworfen. Das vollkommene und verkommene Rhizom. (RHIZOM: Ein Rhizom verbindet unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichen Kämpfen. Es gibt weder eine Sprache an sich noch eine Universalität der Sprache, sondern einen Wettstreit von Dialekten, Mundarten, Jargons und Fachsprachen. – Gilles Deleuze/Félix Guattari – Tausend Plateaus.) Die Schönheit scheint wider – und ihr Schatten: die Traurigkeit. Eine seltsame, verwirrende Melancholie geht von den Konglomeraten aus, als wäre nur die Kehrseite in der Lage, die Wahrheit des Verfalls einzugestehen. (NATURA MORTA: Die tragende kulturelle Stimmung ist die Melancholie als Schwebezustand des Umgangs mit Verlusterfahrungen. Durch In-Bezug-Setzung der gegenständlichen mit menschlichen Lebensläufen, quasi am Interface zwischen humaner und dinglicher Biographie, entsteht bei der Beschau der Abfälle eine schwermütig gefärbte, reflexive Grundstimmung. – Sonja Windmüller, Die Kehrseite der Dinge.) Frau Welt, die Reinigungskraft, setzt sich ihm auf den Schoß: Wo ihr Rücken sein sollte, ist nur Verfall, wo ein Rückgrat sein sollte, ist nur … Kälte. Der Müll als Konglomerat, denkt er, ist die ewige Mahnung, ein immer mehr mit und in sich verschmelzendes memento-mori.

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(Bruch im Textkonglomerat, weil Konglomerate brüchig sind.) Außerdem (und warum auch immer): Beim Wort Konglomerat hat er auch das Wort Spiel (theoriefrei) im Kopf. Vielleicht weil Konglomerat wie ein Brettspiel klingt. So wie Topinambur nur der Name für eine Landschaft sein kann. Oder vielleicht weil: Er erinnert sich an eine Sammlung von Spielen, vornehmlich von Brettspielen. Die Bretter und Figuren und Spielchips und Würfel befinden sich in einem Plastikkoffer, in dem er außerdem (und warum auch immer) Süßigkeiten hortet. Einmal sind es Schokoladerippen und -tafeln, die er unverpackt darin versteckt und über Monate vergisst. Die Schokolade ist geschmolzen und wieder geronnen – sie verbindet die Figuren und Spielchips und Würfel zu einem bunten Konglomerat. Oder vielleicht, weil sein Zugang ein falscher war: Die Gruppen haben keinen größten gemeinsamen Teiler: Die Gruppenzusammenstellung, die Beschaffenheit des Konglomerats, unterliegt dem puren Zufall. Sie sind keine peer-groups, sie sind nur der Einsatz im Würfelspiel der Götter. (SPIEL: Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit. – Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren.) Und für das Spiel, das sie selbst spielen und spielen müssen, hat niemand die Regeln aufgestellt, d.h. die Regeln ändern sich ständig, weil ihr Spiel (in allem Ernst) die Ränder des Spielfelds hin zur Wirklichkeit überschritten hat. Nur noch der Einsatz hat Bestand: Es geht immer um alles, als Einsatz bleibt zuletzt nur noch das nackte Leben. (NACKT: Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet. – Giorgio Agamben, Homo sacer.) Sie sind gefangen in der Permanenz des existenziellen All-in.