ulu, ölü, ewli

25. 7. 2016 // // Kategorie Randnotizen 2016

Die Türken bekommen eine Schrift

Von den Reformen, die der Diktator Mustafa Kemal durchgeführt, um die Türkei zu modernisieren, wird jetzt die bedeutungsvollste verwirklicht: die Türken bekommen eine Schrift. Bisher haben nämlich neunzig Prozent des türkischen Volkes keine Schrift besessen, denn die Kenntnis der arabischen Schriftzeichen, mit denen das Türkische geschrieben wurde, war das Besitztum einer dünnen Oberschicht.

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Schuld daran trug nicht nur das schlechte Schulwesen in der Türkei, Schuld trug vor allem die Schrift selbst, die dem Arabischen angepaßt ist, aber der türkischen Sprache nicht im mindesten entspricht. Für manche türkische Laute sind mehrere arabische Zeichen vorhanden, weil das Arabische feine Unterschiede in der Amtssprache kennt, die dem Türkischen fehlen. Dafür werden mit einem arabischen Schriftzeichen zum Beispiel so verschiedene türkische Laute wie k, g, i, kj und n bezeichnet. Das Schlimmste aber ist, daß das Arabische keine Buchstaben für die Selbstlaute hat. So müssen die Mitlautzeichen im Türkischen nebenbei noch zur Bezeichnung der Selbstlaute dienen, zum Beispiel das w für u, o, ü und ö, zuweilen auch für i. Man stelle sich das Chaos vor! Dieselben Buchstabenverbindungen können auf die verschiedenste Weise ausgesprochen werden und daher die verschiedenste Bedeutung haben. Während die deutsche Rechtschreibung die Wörter Rhein, Rain und rein sorgsam scheidet, werden im Türkischen so verschiedene Wörter wie ulu (groß), ölü (tot) und ewli (verheiratet) ganz gleich geschrieben.

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Dazu kommen noch andere Schwierigkeiten wie die große Aehnlichkeit vieler Buchstaben untereinander, namentlich in der landläufigen Schrift, dem Ryka, das eher eine Art Stenographie ist.

Man begreift demnach, daß die Schreibkunst in der Türkei eine Geheimwissenschaft ist, und man begreift auch die ungeheure Macht, die die Schriftkundigen über die große Masse des Volkes besitzen. Ein großer Teil der hervorgebrachten Korruption ist auf das Analphabetentum zurückzuführen. Die arabische Schrift hat das türkische Volk in Unwissenheit gehalten, sie hat seine wirtschaftliche Entwicklung unterbunden, den sozialen Aufstieg unmöglich gemacht.

Mustafa Kemal, der auf den Trümmern der feudalen Türkei einen kapitalistischen Staat aufrichten will, hat die Notwendigkeit erkannt, dem türkischen Volke eine Schrift zu geben. Er hat Gelehrte berufen, die auf Grundlage der lateinischen Buchstaben ein türkisches Alphabet geschaffen haben. Das Werk dieser Sprachenkommission ist jetzt beendet, und in einer feierlichen Sitzung, der Abgeordnete, Wissenschaftler und Vertreter der Presse beiwohnten, hat die Regierung Donnerstag auf Antrag Ismet-Paschas beschlossen, das neue Alphabet anzunehmen.

Es wurde Auftrag gegeben, daß alle Beamten mit dem lateinischen Alphabet vertraut gemacht werden, und die Regierung in Angora[sic!] hat zu diesem Zwecke zehn französische Professoren angestellt. Die Schulinspektoren werden Schreibkurse für die Lehrer halten, damit diese schon im neuen Schuljahr, das im November beginnt, die lateinische Schrift lehren können. Den höchsten Beamten soll Mustafa Kemal in eigener Person die neue Schrift beigebracht haben.

Mit der Reform der Schrift soll auch eine Reform der Grammatik Hand in Hand gehen. Wie es die nationale “turanische” Bewegung schon zur Zeit der Jungtürken angestrebt hat, soll die türkische Sprache von der arabisch-persischen Ueberwucherung befreit werden. Auch diese Reform wird die Hebung der Volksbildung erleichtern.

Es ist also ein Werk von weittragender Bedeutung, das jetzt in der Türkei begonnen wird; freilich begonnen wird wie alle die gewaltsamen und etwas überstürzten Reformen der letzten Zeit: von oben, auf Befehl und durch den Druck einer “aufgeklärten Diktatur”, ohne Anteilnahme, ja vielfach gegen den Widerstand und die Trägheit der Massen. Aber wenn die neue Schrift nicht, wie so vieles andere in der Türkei, an Indolenz und Schlamperei scheitert, so sollte gerade sie einen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Umsturz herbeiführen, der schließlich die Diktatur selbst hinwegschwemmen wird.

Arbeiterzeitung vom 2. September 1928, Seite 3