Archiv der Kategorie 'Randnotizen 2014'

Das graugestrickte Netz

2. 10. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Ich bin altmodisch, reaktionär und fortschrittsfeindlich, wenn es um Internet und Digitalisierung geht. Meistens mache ich daraus eine Pose und mich selbst darüber lustig, aber das Unwohlsein, das dahintersteckt, ist intensiv. Es überkommt mich angesichts der sozialen Medien, die wohl eher Egotransportmittel sind, aber auch gegenüber all der Inventionen, die Zeit sparen, das Leben erleichtern und alles so viel und immer noch und noch einfacher, zugänglicher, schneller, persönlicher machen. Mich beschleicht dabei immer das Gefühl, das Internet habe wieder ein Stück Terrain erobert, als ginge es um Bodengewinn, Ausbreitung, Vorrücken, Okkupation. Instinktiv nehme ich eine Abwehrhaltung ein und sage dann, beschämt ob meiner Ignoranz, ein wenig hilflos: Aber ist das denn nötig? Man hat oft und kundig versucht, mir die praktischen, gar utopischen Möglichkeiten des Internet zu vermitteln. Mein Intellekt muss nicken und ist einsichtig, doch dabei schaue ich unglücklich und sage leise: Trotzdem.

Mich ängstigt das Verfängliche
Im widrigen Geschwätz
Wo nichts verharret, alles flieht,
Wo schon verschwunden, was man sieht;
Und mich umfängt das bängliche
Das graugestrickte Netz.

Ich stelle die Behauptung auf, Goethe hätte sich keinen Internetanschluss legen lassen. Er fühlte sein inneres Leben bedroht durch Geschwätz, Eitelkeit, Selbstdarstellung, Gesellschaft, Äußerlichkeiten. Das Internet ist eine gigantische Äußerlichkeit. Die Digitalisierung ist nichts anderes als das Einziehen einer Ebene der uneigentlichen Abbildungen unserer Wirklichkeit. Ich beharre auf dem Begriff der Wirklichkeit, und ich halte die Menschheit für außerstande, mit einer digitalen umzugehen. Wir haben grandios versagt im Umgang mit der vorhandenen Welt und flüchten nun in eine Schattenwirklichkeit. Wir können wahrlich nicht behaupten, uns über Goethe hinaus entwickelt zu haben, was Persönlichkeit betrifft, aber wir erstellen Profile, die keiner Vertiefung, sondern hauptsächlich einer Bebilderung bedürfen, damit wir uns darunter etwas vorstellen können. Das Problem liegt nicht in der Entwicklung des Internet, das man, so man will, als Fortschritt bezeichnen kann, das Problem liegt im Wesen des Menschen, das sich eben unwesentlich verändert. Der Mensch bleibt sich im Wesen gleich, und all seine Erfindungen dienen der Ausformung seines Unwesens. Wenn wir bloß einmal uns selbst zur Reife bringen wollten, ehe wir der armen Welt zu Leibe rücken.

(Goethe zitiert nach Safranski “Kunstwerk des Lebens” S. 570)

alles auf dem weg

1. 10. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

 
I. MAIDON

Maidon lag in ihrem liegestuhl am deck dieses qualmenden dampfers :: Ja, es war ein schiff und es war groß. – Wenn der wind durch die kleider fuhr – die schweren mäntel und röcke –, wusste man gewiss und gewisser (in kleinen stufen), dass alles an diesem bild falsch, alles daran aber auch bedingungslos konkret, nichts ausgedacht war: Diese reise wurde angetreten, diese passage führte durch einen ganzen ozean, führte in ein ganzes unbekanntes, verbautes gebiet. Maidon ließ die bilder hektisch kommen in mengen wie kaugummikugeln aus den automaten in knalligen farben, wirkte nach außen hin ruhig wie eh und je, ja praktizierte fast ihre gelassenheit — wie kindergärtner ihre profession, wie ärztinnen ihr fach, wie nachtwächter das ihre. Niemand aber nannte es arbeit. /
Maidon ließ den kopf nach hinten fallen, die haut sich dort angenehm spannen. Heute in 10 tagen, dachte sie, werde ich someone else sein, and the best of it all: noone will notice.

 

II. SYLVIE

Am bäumchen glitzern ihr die blättchen / wie 2-euro-münzchen / wie spieljetons. // Es ließe sich einsetzen ein ganzer wald, ein ganzes grünes gebiet: / für den doppelten gewinn. // In fernsehzeit gerechnet wär‘n das viele lange stunden, und – ja ! – all die wär’n wir live on air. / Und wie viele uns bewunderten, ließe sich maschinell messen und darstellen in quoten und zeigen in streifen und sternen und punkten.

 

III. BERFIN & MARCEL

Berfin ging mit hund, ging stolz und vernünftig, ging durchs kakteenfeld. (Die laune war fast makellos gut.) Die nächste enge passage war in augenschein genommen vielleicht steiler und unwegsamer als zuvor auf der karte besehen, und auch der wind kam jetzt in schüben, Berfins atem schließlich ging: in kürzerer frequenz.
Sie dachte an handverlesene, schön gewachsene oliven, an exotische käsesorten in kleinen stücken, aufgespießt zu herrlichen häppchen: All das war unpassend, all das waren die schlechstesten gedanken, all das log & trog. Marcel keuchte auf vier pfoten, machte viele mühevolle töne…, immer mehr davon, noch mehr. Berfin redete zu. Ging voran. Fälschte ihre gedanken auf dem weg zum mund zu maßvollen worten, zu gewöhnlichen sätzen. Beruhigte.
Es war mitternacht, sie hielten in der steinwüste. In der fata morgana. Am zwischenplateau. Im zustand:: COMPANIONS IN CRIME.

 

 

STOLZ UND (REPRESSIVE) TOLERANZ

1. 10. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Wer sich – wie ich – noch erinnern kann, mit wie viel Schaum vorm Mund die etablierte Politik und die einflussreichsten Medien damals die »Rebellen von 68« dämonisierten, dem bleibt ein Rest von Staunen über die Transformation des »Bösen« in etwas »Wertvolles«. Natürlich hat diese Transformation die Anpassung der (meisten) Akteure ins Bestehende zur Voraussetzung. Aber seltsam ist dennoch, wie der Hass selbst auf das harmlose Unangepasste (das Verprügeln von langhaarigen Pflastermalern durch aufgebrachten Recht-und-Ordnung-Mob zum Beispiel) dem Vergessen preisgegeben wird. Oder wie die Hatz auf Schwule oder Kiffer – veranstaltet von Polizei und Bürgern mit gesundem Menschenverstand – Amokläufen glich.
Das alles – wie auch die Schüsse auf Rudi Dutschke, die nicht erklärbar sind ohne die Botschaft des Springer-Verlags, der die Subversion an die Wand gestellt sehen wollte – ist aufgelöst in so ein stolzes und wohliges Gefühl, damals sei der erste Schritt gemacht worden, Deutschland vom Muff zu befreien, vom Post-Faschismus in die Moderne zu führen.
Es gibt natürlich verbitterte alte CDUler, die waren brav in der Jungen Union als Joschka Fischer Molotow-Cocktails warf. Die drehten schon am Rad als Fischer Außenminister wurde und sie Hinterbänkler blieben.
Und es gibt ebenso verbitterte alte Linke, die schreiben Bücher in großer Zahl – natürlich mit autobiografischem Schwerpunkt – in denen »68« zur Brutstätte von Terror und RAF stilisiert wird. Aber auch diese hauptberuflichen Bußgänger spielen nur eine Nebenrolle.
DIE MEHRHEIT WILL STOLZ SEIN.
In Frankfurt gibt es einen Theodor W. Adorno Platz, mit Denkmal, eingeweiht von der CDU-Bürgermeisterin, die über den Mann, der Jahrzehnte über die Einflusslosigkeit kritischen Denkens reflektiert hat, sagte, er habe »die Identität unserer Stadt maßgeblich mitgestaltet.«
In Berlin gibt es eine Rudi-Dutschke-Straße, ganz unabhängig von der Frage, ob und wie tief er in Gewalt verstrickt war.
Wenn mal wieder abgestimmt wird, wer der wichtigste Deutsche war oder ist, dann sind Karl Marx, Rosa Luxemburg und sogar Erich Mühsam immer dabei. Wie zur Bebilderung von Marcuses Begriff der »REPRESSIVEN TOLERANZ« werden sie eingeklemmt zwischen Reaktionären und Konformisten. Helmut Schmidt steht als Sieger ohnehin fest.
Man findet Formeln für sie, die von aller Schärfe ihres Denkens befreit sind. Marx wollte dann, dass es den Arbeitern besser gehe; Erich Mühsam war ein lustiger, weltfremder, liebenswerter Anarchist.
Die Förderung von Ignoranz gegenüber ihrem Denken benutzt die Methode, es »menscheln« zu lassen.
Zu Adornos 100. Geburtstag berichtete das Feuilleton von seinem Lieblingsfrühstück (»ein großes Omelette mit Toast«), seinen Fernseh-Vorlieben (er sah recht gern »Daktari«), seinem Verhältnis zur Mutter, der Herkunft seines Spitznamens (»Teddy«), seiner Kleidung (konventionell), seinen Umgangsformen und natürlich seinen sexuellen Abenteuern und Vorlieben, die man aus seinen Tagebüchern ausgrub. Ein großes Rätsel war dem Feuilleton, wie ein so kleiner und pummeliger Mann ohne prächtigen Haarwuchs so viel Schlag bei Frauen haben konnte.
Ansonsten war er: »Umstritten«.

Reise in den steirischen herbst

1. 10. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Nach einigen Wochen in der brandenburgischen Einsamkeit eines Aufenthaltsstipendiums machte ich mich auf den Weg nach Graz. Ich landete zunächst am Berliner Südkreuz und betrachtete schutzlos staunend jedes der unübersehbar vielen Gesichter, die verbissen bis trostlos durch mein Blickfeld strömten. Ich musste lachen, als ich versuchte, mit meinem Koffer aus der S-Bahn hinauszugelangen, und nur deshalb wichen die Menschen befremdet zurück: um das Lachen möglichst schnell nach draußen zu lassen. Nachdem ich wochenlang jeden Tag durch Wälder gestreift und übers Land und durch Dörfer geradelt war, ohne jemandem zu begegnen, reihte ich mich am Flughafen Tegel unter die Wartenden, die sich an Bändern entlang um Stempen schlängelten. Mit der Neugier eines Forschers unterzog ich mich den modernen Prozeduren des Absurden, klaglos warf ich meine volle Wasserflasche in den Müll, ungläubig kichernd bezahlte ich zwei Euro fünfundachtzig Cent für null komma fünfundzwanzig Liter stilles Wasser, und fasziniert verfolgte ich das Treiben der Verkäuferin, als sie die wertvolle kleine Wasserflasche in ein Plastiknetz und gemeinsam mit der Rechnung in eine Plastiktüte steckte, die sodann versiegelt wurde.

Meine Abstumpfung hatte gelitten unter der Stille und der Natur, meine Sinne waren offener geworden, und kurz brachte ich auch Verwirrung in die Abgestumpftheit der Mitarbeiterin an der Sicherheitskontrolle, die mich blicklos abtastete. Als ich auf sie zutrat, hatte sie nicht sehen können, dass meine Bluse hinten tief ausgeschnitten war, und als ihre Hände unvorbereitet auf meinem nackten Rücken zu liegen kamen, gab sie ein „Huch“ von sich und sah mir ins Gesicht, als käme ihr erst jetzt die unpassende Nähe ihres Tuns zu Bewusstsein. Ich lächelte sie an und half ihr so, mit einem leichten Ekel in ihre frühere Distanz zurückzukehren, um mit ihren Fingern in meinen Hosenbund zu fassen. Derselbe leise Ekel vor den Passagieren spielte auch um die Münder der Stewardessen, die dann im Flugzeug mit unangebrachtem Aufwand und Pathos winzige Snacks ausgaben. Eine von ihnen verabschiedete sich jedoch in der Unsichtbarkeit des Mikrofons, als hätte sie gegen Ende des Fluges unerwarteterweise eine tiefe Zuneigung zu uns allen gefasst. Sie wünschte uns nicht nur einen guten Start in den Tag, sondern auch eine erfolgreiche Woche, und alle fühlten sich sehr leistungsträgerhaft und waren überzeugt, auf einer wichtigen Dienstreise unterwegs zu sein. Die Frau am Mikrofon, die wir nicht sehen konnten, dachte aber auch an jene, die weiterreisen würden, auch ihnen wünschte sie Angenehmes, sie vergaß nicht die Kinder und nicht das Wetter, und ich konnte an ihrer Stimme hören, dass Rührung sie übermannte, als sie zum Schluss sagte: „Alles Liebe für Sie“.

Jeden einzelnen Passagier verabschiedete sie mit ihrer Kollegin noch einmal beim Ausstieg, und wahrscheinlich schämte sie sich für ihren emotionalen Ausbruch vorhin am Mikrofon, denn nun wirkte sie wieder sehr kühl und auf Abstand bedacht. Etwas musste sich verschoben haben in mir in der Abgeschiedenheit, denn die Welt schien plötzlich voll von Unangebrachtheiten. Unangebracht, dass mich die Kronenzeitung in meterhohen Lettern in der Heimat willkommen hieß, unangebracht das riesenhafte Schnitzel auf dem Bildschirm bei der Gepäckausgabe, unangebracht die ständigen Warnungen vor unbeaufsichtigten Gepäckstücken, während unbeaufsichtigte Kinder sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, und unangebracht die Hingabe, mit der Erwachsenenblicke über die gefährdeten Kinderköpfe hinweg auf die allüberall gegenwärtigen Screens geheftet waren.

Ohne an die Durchführbarkeit meines Vorsatzes zu glauben, beschloss ich, nie wieder mit dem Flugzeug zu reisen, weil ich das Gefühl hatte, all die Unangebrachtheit ließe mir den Schädel zerspringen. Ich beschloss, nicht wieder alle Neurosen unserer Zeit innerhalb weniger Stunden in schönster Blüte beobachten zu wollen, weil es mich traurig und verzweifelt machte, und als ich die Flughafenversuchsanstalt verließ, hatte ich meine Wahrnehmung gezügelt, mein Lächeln abgeschminkt und meinen Blick zu Boden gerichtet.

Jetzt aber bin ich im steirischen herbst angekommen und werde offenen Auges herumlaufen, um zu sehen, wie die Dinge hier angebracht sind.