Archiv der Kategorie 'Randnotizen 2015'

Wo sind wir?

14. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

Ich bin auf der Suche nach meinem Zwillling

sie ist unter dem Erdboden,

hat ein geschwärztes Gesicht.

Die Erde unter meinen Fingernägeln

sind ein Näherkommen.

ich grabe immer tiefer,

bis ich in in einem kühlen Erdloch sitzen kann.

Dann lege ich den Kopf in den Nacken,

den Blick in die Sterne,

umschlinge mich mit meinen eigenen Armen.

Vielleicht sehe ich meinen eigenen Atem

in der kalten Nachtluft.

Manchmal tut es gut, den eigenen Atem zu sehen. Wenn man nicht in den geöffneten Mund

von jemand anderem hinein atmen kann.

Dort der Himmel, dort der Wachholder, dort die rauhen Bergspitzen.

Hier bin ich:

Hände schroff wie die Berge,

der Nacken ist kühl, das Hemdchen ist schmutzig,

wie aus Papier, alles zeichnet sich darauf ab.

Spuren von Schlamm, zerdrückte Pflanzen.

Ich könnte mir einen Kranz aus Blumen flechten.

Aber die Zeit der Kronen ist vorbei.

Unter der Baumrinde, unter der Erde: ein Spiegel

Darin die Wolken wie eine Schwesternsehnsucht.

Die Heftchen: Briefe an die Besucher, ein Wegweiser

13. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Was ist es, das ist?

12. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Lieber M.

Unlängst habe ich mir die Notizen unseres letzten Zusammentreffens angesehen. Erinnerst du dich, als wir darüber gesprochen haben – was ist es, das bleibt?

Hier liegen sie nun vor mir, als Gedächtnisstütze sozusagen. Nein – ich lagere mein Gedächtnis nicht virtuell aus, auch wenn dich meine Nachricht aus der Rechnerallgegenwart auf vermeintlich irreführende Weise erreicht hat.

Mich interessiert die scheinbar unendliche Dimension, die unvorstellbare Ausdehnung der Daten. Vor allem, in welchen Größenordnungen sich die Informationen tagtäglich ihre Wege in der virtuellen Welt bahnen und zum Gedächtnis unserer Zeit werden – wahrhaftig monumental!

I am a monument – bin ich ein Monument? Monere heisst erinnern – an was sollten wir uns erinnern, in einer Zeit die flüchtiger ist denn je? Back to the Future? Können wir aus Vergangenem lernen und daraus unsere Schlüsse ziehen? Ja, das müssen wir sogar! Monumentum ist das Denkmal – was können wir bewahren? Möglicherweise finden wir die Antwort in der Erinnerung, im Gedächtnis eines Menschen… – Erbe?

Du erinnerst dich vielleicht, in Zeiten der Aufklärung war es u.a. Étienne-Luis Boullée, welcher überlebensgroße Monumente für eine zukünftige bessere Welt entwarf. Für einen Staat, welcher diese auch benötigen würde – begründet in der Technik und der Wissenschaft, nicht mehr in der Religion. Eine Stadt gedacht als System, als Tauschbetrieb, in dem es möglich sein sollte, schon an der Gebäudehülle die Position der einzelne Körper in diesem Kreislauf abzulesen. Hmm, schon wieder eine Hülle…

Was kann mir der Kenotaph, als Abbild des Universums, erzählen? Architektur die spricht – Architecture parlante? Architektur, sprich doch mit mir! Monument, willst du mir sagen, dass der Ausdruck über dem Zweck steht und der Betrachter über dem Bewohner? Woran soll ich mich erinnern? Ist das das Erbe, welches nun schon über viele Generationen weitergegeben wird? Ich frage mich ob dieser Zeitgeist / dieses Monument nun ein Denkmal ist, obwohl es doch nie gebaut wurde? Nur am Papier…

M. – stell dir vor, du versucht nun erneut das dreidimensionale Bild von damals zu betreten. Beschreibe mir doch was du siehst und inwieweit es auch mit unseren Gedanken von letztens korreliert. Ist es vielleicht sogar möglich, die Monumente, die Denkmäler der Gegenwart zu sehen?

Sind es die glatten Fassaden, von denen dir dein Spiegelbild verzerrt engegenlacht, oder ist es eine neue viel größere Dimension, welche unbemerkt im Hintergrund einen virtuellen Stein auf den anderen legt?

Geschaffen, um in monumentalem Charakter die Reminiszenz einer Gesellschaft zu sein. Erdacht, um die kulturellen Entwicklungen aus lang vergangenem Gestern, Heute, vor allem für ein kommendes Morgen lesbar zu machen.

Data loss – was ist es also, das bleibt? Was ist es, das ist?

Ein Monument, ein Denkmal – wie sehen diese (gebauten) Symbole heute aus?

M. daran müssen wir arbeiten …

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big brother is ignoring you, so join the murder

11. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Er weicht Beobachtungen aus, so gut er kann: Der beste Weg dazu ist es, selbst zu beobachten: Der Sehende bleibt ungesehen. – Das Auge der Webcam auf seinem Laptop z.B. hat er mit einem Stück Isolierband verklebt. Oder: Die Astlöcher der Fichtenbretterverschalung in seiner Wohnung hat er mit post-its überklebt, weil er ihre Augenblicklichkeit erkannt hat. (Zumindest hat die Figur in einem seiner Texte das gemacht …) Auch das Gehörtwerden vermeidet er: Er wäscht das Geschirr geräuschlos, seinen Raucherhusten schalldämpft er mit Taschentüchern und noch immer – wie seine ganze Kindheit hindurch – geht er gerne auf Zehenspitzen. (Umgekehrt genießt er die ohropaxgedämpfte Autarkie, in die er sich begibt, sobald es finster wird. – Ende der Hörigkeit …) Der olfaktorischen Beobachtung zu entgehen, ist am schwierigsten, der Zigarettenrauch verrät ihn. (Dennoch: Geruchloswerden, Jean-Baptiste Grenouille-Werden, Mörder-Werden.) – Seine Angst vor der Beobachtung, sagt er sich, hat nichts Paranoides. Er glaubt an keinen Gott, der alles sieht. An keinen großen Bruder, der noch mehr sieht. Er glaubt an keine unsichtbare Hand, die alles steuert. (Schon gar nicht: Zum Besten. Aller.) Für Weltverschwörungstheorien fehlen ihm Langeweile und Nerd-Skills. Und er glaubt, am allerwenigsten, daran, dass er es wert wäre, beobachtet zu werden. Trotzdem bleibt die Angst, und der Blick herrscht vor. (Noch die Schlafenden, wenn er nicht hinsieht, beobachten ihn, hören und riechen ihn.) Der Blick ist konkret: gerade auch dort, wo er zu schielen und auszuweichen beginnt. Der Blick ist abstrakt: gerade auch dort, wo ein reales Auge zielt. Und der Blick, müsste er sich eingestehen, ist sein eigener: Er fürchtet den Blick der anderen, weil er eben diesen Blick auf die anderen richtet, wieder und wieder.

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In seinem Kopf, müsste er sich eingestehen, sitzen die Augen des Voyeurs (wie in jedem Sammlerkopf). Schleichende Augen: Die Katze und ihr heißer Brei oder der Geier und die sterbende Kreatur. (Um manche Plätze dreht er Rund um Runde, oft über Stunden, bis er endlich zu Gesicht bekommt, was er zu Gesicht bekommen will.) Distanzhaltende Augen: noli me tangere und please mind the gap. (Der Voyeur, denkt er, braucht die Distanz. Wichtiger als die Szene im Zimmer sind die Tür, hinter der er sich versteckt halten kann, und das Schlüsselloch, das den Blick freigibt. – Das Schlüsselloch, der Hort, in dem er das beobachtende Augen-Ich aufheben kann.) Notierende Augen: speedpupillenspitzer Bleistift bzw. Tintenkiller. (AUGENGESCHWINDIGKEIT: Über allen Bemühungen schwebt erhaben der große Mythos eines reinen Blicks, der reine Sprache ist: der Mythos eines sprechenden Auges. – Michel Foucault, Die Geburt der Klinik.) Hegemoniale Augen: sondierend, selektierend. (Noch ehe er sieht – siehe: all the world’s a cage –, ist alles vom internalisierten Kategoriengefängnis gerastert, noch ehe er sieht, ist alles hierarchisiert und subsummiert und klassifiziert. Linné-Begierden: Der Voyeur sieht in den Kategorien seiner Geilheit.) Technisch armierte Augen: damit nichts aus dem Gesichtsfeld seiner Kurzsichtigkeit fällt, damit nichts der fotografischen Häutung entgeht. (DAS OPTISCH-UNBEWUSSTE: Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt ihn ihm. – Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie.) In seinem Kopf, müsste er sich eingestehen, sitzen die Augen des Voyeurs, des großen Bruders und Totschlägers Kain.

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Seine Sympathien haben, so weit er sich erinnern kann, Kain gegolten: dem älteren (und er denkt: größeren) Bruder, dem von Gott Übergangenen und Ignorierten, dem Verstoßenen und ruhelos Wandernden, dem gezeichneten Mörder. (ZEICHEN: Come join the murder / Come fly with black / We’ll give you freedom / From the human trap. – Kurt Sutter, Come join the murder.) Die Geschichte Kains, denkt er, ist die Geschichte der Schrift: ihrer Tödlichkeit und ihrer unabschließbaren Wanderung. Eine Geschichte der Inskription. und ihrer Auslöschung. Die Namen zweier Autoren sind ihm Etappen in dieser Geschichte. Name#1: Leopold von Sacher-Masoch. Er schreibt das Vermächtniß Kains und schickt dazu die Wanderer aus: die Nomaden und Flaneure. Ihr Fluch ist die alttestamentarische Ruhelosigkeit, ihr Fluch ist das Leben, weil sie selbst nur Notgeborene sind. (NOTGEBURT: Besser freilich ist nie geboren zu werden, und wenn man schon geboren wurde, den Traum ruhig, mit lächelnder Verachtung seiner schimmernden, lügnerischen Bilder auszuträumen, um für immer im Schooße der Natur unterzutauchen. – Leopold von Sacher-Masoch, Der Wanderer.) Sacher-Masoch setzt den modernen Menschen: In die eben erst erfundene Schwarzweißfotografie zeichnet er – rot – das Kainsmal. Name#2: Rainald Goetz. Er sitzt am Pult. Er trägt Anzug und Krawatte. Er trägt das Zeichen. Auslöschen kann er das Zeichen nur, indem er ein noch tieferes Zeichen einträgt. Mit dem Rasierklingenschnitt. Mit der überquellenden Wunde. Mit dem das Schwarzweiß des Manuskript durchtränkenden Blut. Weil alles darauf zurück- und hinausläuft. Weil alles, d.h. alle Flüssigkeiten (inkl. Blut) den Weg des geringsten Widerstandes nehmen. Weil alles, alles Thema ist. (ALLES: wegzerstechen alle Gefühle und dann im Endhirn die Erinnerungen totstechen, bis auch die letzte ScheißAtmung sistiert. – Rainald Goetz, Irre.) Und weil: Nur wenn er die Blicke vorsätzlich auf sich zieht, nur wenn er sich zur Schau und ausstellt, kann er der Beobachtung entgehen: Er, als Gesehener, blendet.