Archiv der Kategorie 'Randnotizen 2015'

Ursache?

16. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Liebe M.

Du hast letztens von der scheinbar unendlichen Dimension der Daten gesprochen. Vermutlich lässt es sich zu diesem Zeitpunkt nicht definieren, wo darin der Ausgangspunkt liegt oder welcher der unzählingen Vorkommnisse in letzter Zeit nun genau der eine Auslöser, die eine Ur- Sache war.

Du fragst dich sicher die Ursache wovon? Auch dies ist nicht leicht zu beantworten – Netzwerke, Systeme, Globalisierung, Kapitalismus, Neoliberalismus? In all den Jahren hat sich daraus ein in sich geschlossener Kreislauf gebildet, welcher von Außen kaum mehr einsehbar ist. Informationsströme fließen abseits der uns bekannten Wege. Wir können diese nicht mehr überblicken, geschweige denn, selber steuern. Nur einige wenige wissen, wie man die Manipulation beherrscht. Der goldene Käfig hat uns zu Anwendern unserer eigenen Sache gemacht!

In medias res, oder wie der Nucleus der DNA.
Ich bemühe mich, immer weiter zum Kern vorzudringen. M. – übersehe ich dabei, dass ich mich ja bereits inmitten dieses Kreislaufs befinde? Laufe ich im Kreis?
Nur durch bestimmte Poren, besser gesagt Tore, gelangen die Moleküle überhaupt erst in das Innere des Zellkerns ….

…M.- wir müssen diese Tore finden.

Wodurch wird eigendlich das Innen und das Außen definiert? Sind es Mauern, Grenzen oder Zäune? Nehme ich vielleicht erst jetzt wahr, dass ich mich schon seit meiner Geburt im Inneren der Festung befinde und die Definition dadurch überhaupt keine Rolle gespielt hat? Suche ich vielleicht gerade deshalb nach dem Außen – einem Ausweg? Ich bin Teil des Systems – kann ich dann auch teilen? An den Fronten des Weltgeschehens wird man dazu sicherlich einiges zu sagen haben.

Castel del Monte, du Schatzkästchen, was versuchtst du nur zu beschützen?

Sind es vielleicht die vielen kleinen Teile, welche du über lange Zeit in dir aufgesammelt hast, die dich in der Summe der Dinge als „ein Ganzes“ ausfüllen. Was passiert, wenn das Puzzle neu gelegt werden muss, dem Gesamtgefüge der inhärenten Struktur ein neuer Zweck zugeführt wird – was ensteht? Ein Verlust? Oder werden dadurch neue, unvorhergesehene Räume frei – offene, bereit für Neues? Schatzkästchen, erkenne doch die Möglichkeiten … – wohin verschieben sich die Pfeile, wenn die Blickrichtung sich ändert?

Natürlich weiß ich, dass es Stücke gibt, die nicht zu tauschen sind. Diese werden schon lange von Generation zu Generation weitervererbt – wir nennen sie „Werte“. Doch was wird übergeben? Wodurch definiert sich überhaupt ein Wert? Lexikal unterscheidet man sehr zwischen ethischen und wirtschaftlichen Bedeutungen.

Ist es wirklich so einfach geworden, Werte zu „berechnen“. Sind wir dadurch selber „berechenbar“ geworden und somit manche Menschen wertvoller als andere? Worin liegt also die Ursache und was sagt uns das eigentlich über den Kreislauf aus? Ist deiner noch in Ordnung?

M. – wie du dir sicher vorstellen kannst, haben Ethik und Wirtschaft dazu jeweils unterschiedliche Antworten…

Außen. Innen. Schwelle. Übergang – Bedrohung oder System? – Das (Be)Rechnen übernimmt das Denken/Fühlen und somit das Handeln:

Im Gegensatz zum Rechnen ist das Denken sich nicht transparent. Das Denken folgt nicht den vorausberechneten Bahnen, sondern begibt sich ins Offene. (Bjung Chul-Han)

M. – darüber müssen wir wirklich nachdenken.

Tiny Guy in Dom im Berg

14. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

IMG_5146In the Icelandic folk tales, the elves live in palaces that were supposed to be inside big rocks and mountains. Inside the mountain – where humans could not enter – the elves are supposed to have nice clothes, good food, theatre, dance and sorts of fancy things (perhaps it was the lacks of pretty houses and pretty things in general the miserable medieval Iceland that led to the origin of these tales).

I mention this because tomorrow Kridpleir will walk into the “palace mountain” here in Graz, Schlossberg, and performs Tiny Guy.

In Tiny Guy we present extensive studies we have been doing on the human brain and declare a groundbreaking conclusion: We´re too lazy to think! Attempting to break this vicious cycle of human inefficiency we invite you into the mountain with us for a convincing presentation of our new method, called “I am the Master”.

Just to be clear: Tiny Guy has nothing to do wit elves. We do not believe in them and nobody in Iceland does anymore.

 

Kopftausch setzt Enthauptung voraus …

14. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Wenn er ihn sieht – und er könnte ihn täglich sehen, da er jeden Tag da ist, auf seiner Bank –, hat er mitunter das Gefühl (soll er es sich eingestehen: die Angst?), in einen Spiegel zu blicken. Das Bild, das der Mann ihm zurückwirft, ist nicht sein wirkliches, nicht das seines Vollzugsindikativs, es ist ein konjunktivisches Spiegelbild, in das er blickt. Ein Zerrspiegel also, der sein Bild jedoch nicht räumlich – in gedehnte oder gestauchte Flächen – verzerrt, sondern zeitlich: Der Spiegel dehnt seinen Blick aus in die Zukunft der Möglichkeitsformen. Er hat das Gefühl (die Angst?), dass der Mann er selbst ist, nur dass das Leben des Mannes, das auch sein Leben ist, früher, um zehn, zwanzig Jahre früher gestartet worden ist. Der Mann ist kein anderer, er ist ihm nur um einiges voraus: Er geht einen Schritt und er folgt ihm. Die Spur, die er zu hinterlassen glaubt, ist vorgegeben, von ihm. – Im Vorbeigehen zieht er Vergleiche, weil er das Zwischenmenschliche immer in den Vergleich zwingt. Der Mann hat einen wuchernden Vollbart. Einen viel stärkeren Bartwuchs als er. (Stellt er erleichtert fest.) Der Mann hat halblange, lockige Haare. Seine sind länger, aber das hat nichts zu sagen. Der Mann trägt bevorzugt Kapuzenpullover (wie er), einen grünen Parker (wie er, im Winter) und in Kniehöhe abgeschnittene Armeehosen (wie er, in der Obdachlosigkeit des Wohnens). Dann sucht er nach Unterschieden (d.h. er sucht sich zu beruhigen). Der Mann trägt eine Brille: er nicht. Der Mann hat immer glänzende, frischgeputzte Schuhe an: er so gut wie nie. Der Mann hat nie einen Rucksack (oder auch nur ein Sackerl) dabei: Er fast ständig. Der Mann ist meistens allein – doch an dieser Stelle streut er Sand ins Vergleichsgetriebe.

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Der größte Unterschied (Unterschied groß U!) aber ist die Wollmütze, die der Mann aufhat, zu jeder Tages- und jeder Jahreszeit. Ihm selbst sind Wollmützen – Kopfbedeckungen überhaupt, aber vor allem Wollmützen – zum Symbol der Unterwerfung geworden, zum Symbol einer unentrinnbaren Unfreiheit. Dem Mann dagegen ist sie zum Refugium geworden. Die Mütze ist nicht rot (ergrautes Schwarz), aber er findet Schutz darunter. Sie schottet ihn ab, wenn es sein muss. Immer wieder zieht er sie tief ins Gesicht – bis unter die Nase zur Oberlippe –, um zu schlafen oder auch nur so zu tun, als würde er schlafen. Jedenfalls wagt niemand es, ihn anzusprechen: Unter der Haube ist er tabu. Vielleicht (wahrscheinlich) hilft die Mütze ihm auch, nicht den Kopf zu verlieren. Wie Maschendrahtzäune über Felsen gespannt werden, um Abbrüche zu vermeiden, ist das Wollnetz mit den großen und größer werdenden Löchern um seinen Kopf gespannt, um das Abbrechen der Gedanken, die immer auch ein Stück Kopf – Haut, Fleisch und Knochen – mit sich in den Abgrund reißen, zu verhindern. Die Gedanken sind schwer von Rotwein und Vergangenheit, und wenn sie losbrechen, fürchtet er immer um sein Leben. Irgendwann, mag er denken, wird er ausgedacht haben, nichts wird mehr da sein, als Leere und Leere. Dort, wo sein Kopf war, wird nichts sein als Sediment: Staub und Sand, zu dem sein Denken verfallen sein wird, sein Hoffen und Träumen. Und ohne die Mütze, mag er denken, wäre alles längst zu Ende gegangen.

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Am nötigsten hat er die Mütze in den Nächten. Sie ist ihm Sturzhelm, wenn er aufsteht und fortgeht und dabei auf die Schnauze fällt oder gegen ein Metallgestell läuft. Sie wärmt seinen Kopf, wenn es außen kälter und finsterer und schwärzer wird, und auch das, was innen vorgeht, ihn frösteln lässt. Und sie schützt ihn, wenn der Rotwein innen, im Schädel, das Kommando übernimmt. Wenn das Denken ganze Fleischbrocken aus dem Kopf reißen will, wenn es ihn, um ihn endlich kopflos zu machen, innerlich köpft. Und wenn das Denken sich schließlich nach außen wendet und nach jemanden sucht, den es stattdessen vernichten kann, d.h.: Ich reiß‘ dir den Schädel ab. Noch (noch?) genügt es ihm dann, die Mütze ins Gesicht zu ziehen: tiefer und tiefer, bis unter den Mund, damit auch seine Schreie verdeckt werden. – Auch das, denkt er, wird dann zu seiner Zukunft gehören: die Wut und der Hass, die Unmöglichkeit (der Unwille?), noch irgendetwas hinzunehmen und hinunterzuschlucken, sich hinwegzuducken, sich zu arrangieren. Auch das ist Zukunft: Rückkehr ins Faustrecht, Rückkehr in den Abgrund. Er geht zur Bank, auf der der Mann eben noch gesessen hat, setzt sich, spürt in seinem Rücken die noch warmen Holzbretter und schließt die Augen. Gedanken verstreichen und verstreichen. Dazwischen liegen Sekunden und Jahre, er könnte es nicht sagen. Als er die Augen wieder öffnet, fällt sein Blick auf seine Beine: Er trägt in Kniehöhe abgeschnittene Armeehosen, und seine frisch geputzten Schuhe glänzen im Laternenlicht. Er hat Kopfschmerzen. Er wagt es nicht, nach der Wollmütze zu greifen, die sie hervorrufen. Er hat Angst.

gestern Nacht im Wald

14. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

im wald ausgegraben

Ich habe den Mond an einem Baum aufgehängt

darunter stundenlang gegraben und Koffer mit blauen Kanten zu Tage geschafft.

Drei Waldgästen haben sich herangeschlichen:

Wie eventuelle Schatzkisten werden die Koffer von ihnen in Augenschein genommen

und beschnüffelt.

Sie wagen nicht, das weiße Laken zu heben.

Die beiden abgetrennten Hufe sind wie ein Warnsignal.

Der schuppige Flossenmensch lächelt kahl.

Ich sitze im Auto auf der Rückbank und beobachte alles.