Sabotage oder Eier mit Siegel

27. 6. 2014 // // Kategorie Randnotizen 2014

Man könnte – und müßte dafür auch längeren Zitaten keinerlei sinnentstellende Gewalt antun – Herbert Marcuse zu einem Stichwortgeber für eine heutige Erscheinung stilisieren. Zum Inspirator all derer, die es für eine aufregende und berichtenswerte Tat halten, wenn sie ihren Kleiderschrank von Plunder befreien oder ihre Wohnung mal gründlich entrümpeln. Oder wenn sie sich entscheiden, ihren Mantel zu reparieren statt wegzuwerfen.
Da ist allerlei Sinnsuche und Werkeln am Alleinstellungsmerkmal unterwegs. Höchstes Bewußtsein und überbordende Sensibilität bescheinigen sich jene, die beim Kauf von Eiern auf Freilandhaltung und auch sonst darauf achten, daß nur Produkte mit Gütesiegeln, auf denen das Wort “FAIR” prangen muß, in ihren Einkaufskorb kommen.
Ebenfalls recht modern – für Titelstorys in Großen Illustrierten und großes Gelaber in Talkshows sorgend – ist das Räsonieren zum Thema sinnvoller, nicht so hektischer Freizeitgestaltung. Nicht immer nur den Körper stählen, auch mal Wellness soll man sich gönnen. Und ein gutes Gespräch ist ohnehin unschlagbar – und ein generationsübergreifendes Brettspiel im Familienkreis (Nichts fürchtete ich mehr, als ich dreizehn war) ebenfalls.
Ich erwähnte ja schon, daß Marcuse als Zeuge hierfür zu gebrauchen (oder mißbrauchen) wäre, denn so ein berühmtes Wort von ihm, wie das von der Gesellschaft als “HÖLLE IM ÜBERFLUß” deutet ihn als Kritiker von Integration und Verblödung durch die viel Zeit verschlingende Beschäftigung mit Konsumgütern an. Daß er Einsamkeit, die unsere Gesellschaft technisch unmöglich macht, schätzte und für eine Bedingung hielt, über sich und die falsche Einrichtung der Gesellschaft zu reflektieren, ist ebenfalls wahr.
Und doch ist er kein Zeuge für den zeitgemäßen kritischen Konformismus.
Marcuse nämlich – und das macht den Unterschied ums Ganze – stellt die mörderische Produktivität der Arbeitswelt, die ganz schön verantwortlich ist für allerlei kaputte Bedürfnisse, an den Ausgangspunkt seiner Kritik. Fehlt dieser Ausgangspunkt, schlägt die Stunde der moralischen Erbauer – und mit denen ging der materialistische Philosoph bitterböse ins Gericht: “Nicht durch die Verbesserung oder Ergänzung des heutigen Daseins durch etwas mehr Ruhe, etwas mehr Beschaulichkeit, nicht durch Anpreisung und Praktizierung der `höheren Werte`, nicht indem man sich selber und sein Leben `erhebt`, wird der Fortschritt über das Leistungsprinzip hinaus vollzogen… Die Ermahnungen, die schönen und guten Dinge dieser und der jenseitigen Welt zu würdigen, sind an sich schon repressiv, insofern sie versuchen, den Menschen mit der ARBEITSWELT AUSZUSÖHNEN, die man dabei an der Seite und hinter sich läßt.” (Das Zitat ist aus “Triebstruktur und Gesellschaft”)
Aber kann, darf man fragen, das Leistungsprinzip – dieser Schrecken! – aus der Arbeitswelt verbannt werden? Oder gemildert? Dazu vielleicht ein paar Gedanken demnächst. Jetzt muß ich einen Dialog entwerfen, für unsere Aufführung, und da ist Leistung gefragt und eiserne Disziplin. Immer nur Lustprinzip geht auch nicht…